Nach dem Brexit-Votum: Der große Plan von Boris Johnson & Co.
Raus aus der größten Freihandelszone der Welt, dafür viele separate Freihandelsabkommen - was die Brexiter in der neuen britischen Regierung vorhaben.
Boris Johnson, der neue britische Außenminister, hat gleich nach Amtsantritt wieder Historisches von sich gegeben. Das Brexit-Votum sei eine Revolution wie einst der Aufstand der Sansculotten gegen die französische Monarchie, nun aber gegen ein „erstickendes bürokratisches Ancien Regime“, gemeint ist Brüssel. Wenn aber die Austrittsbefürworter neuen Sansculotten sind, die revolutionären Kleinbürger und Arbeiter, dann wären Johnson & Co., die Brexiter-Elite, die neuen Jakobiner. Hat Johnson nicht weitergelesen? Die Jakobiner-Herrschaft endete in Terror und Chaos. Die Sansculotten fielen bald von ihnen ab.
David Davis ist auch ein Brexit-Jakobiner. Der neue britische Minister für den Austritt aus der EU muss die Scheidungsgespräche führen, gleichzeitig aber darauf achten, dass man mit dem verschmähten Partner auch darüber reden will, wie man im besten Einvernehmen das weitere Leben gemeinsam gestaltet. Denn darauf läuft der Brexit ja hinaus: Trennung aus Eigeninteresse, Neuvermählung aus Eigeninteresse. Der Partner muss dabei aber mitmachen. Das verdrängen die Brexiter. Beim EU-Außenministertreffen an diesem Montag in Brüssel, das erste, an dem Johnson teilnimmt, dürfte das außerhalb der Tagesordnung ein Thema sein.
Freunde jenseits des Kanals
Zu denen Brexiter gehört auch Liam Fox, ein Mann des rechten Flügels der Tories und jetzt Minister für internationalen Handel, ein neu geschaffenes Ressort. Johnson, Davis und Fox halten die EU für eine verrottende, dem Untergang entgegentaumelnde Monstrosität, den Euro für einen kompletten Fehlschlag (aber welche Währung ging gerade in die Knie?), und den ganzen Verein der europäischen Staaten für einen gackernden Hühnerhaufen, den man nach Belieben auseinanderdividieren kann. Darauf läuft die Verhandlungsstrategie der Brexiter hinaus. Mit den „Freunden auf der anderen Seite des Kanals“ werde man auf einem „inter-governmental level“ verkehren, sagt Johnson, also bilateral.
Nach der Brexiter-Logik tritt nicht Großbritannien aus der EU aus, sondern es ist umgekehrt: Das Brexit-Votum ist der Rauswurf der Europäer aus dem neuen britischen Kosmos, den man sich seit Jahren zusammenideologisiert hat. O-Ton Johnson: „Das Vereinigte Königreich schmiedet sich eine neue globale Identität.“
Die Idee der Brexiter ist es, parallel zu den Ausstiegsverhandlungen mit der EU auch schon separate Freihandelsvereinbarungen mit dem Rest der Welt zu treffen – zuerst mit den USA und China, dann mit Indien, Australien, Kanada, Japan, Indonesien und so weiter. Mögliche Folgen des Ausstiegs aus der größten Freihandelszone der Welt, unter dem Kampfruf „free trade“, sollen ausgeglichen werden durch ein Sammelsurium an bilateralen Freihandelsvereinbarungen. Die australische Regierung hat schon Interesse signalisiert. Allerdings sind solche Separatverhandlungen streng genommen gar nicht möglich - solange Großbritannien EU-Mitglied ist, und das ist es noch für mindestens zwei Jahre, widerspricht das dem EU-Recht. Aber Davis verspricht schon eine schöne neue Welt für Großbritannien: "Wir werden einen sehr, sehr großen Handelsraum bekommen, viel größer als die Europäische Union, vielleicht zehn Mal so groß." Wie groß der Zusatzeffekt sein würde, ist aber unklar: Immerhin handelt ja auch die EU schon mit all diesen Ländern.
Hoffnung auf Exportschub
Davis erhofft sich durch solche Freihandelsverträge mit aller Welt einen Exportschub. Aber der ist schon im Binnenmarkt ausgeblieben, denn Großbritannien hat eben nicht viel im Angebot. Und Dienstleistungen, vor allem bei den Finanzen, das Rückgrat der britischen Wirtschaft, sind nicht das beste Handelsgut, weil recht beliebig ansiedelbar. Um Britannien attraktiver zu machen, muss die neue Regierung mit anderen Standortfaktoren kommen: weniger Regulierung, geringere Steuern (da fängt sie mit der Senkung der Unternehmensbesteuerung schon an), niedrige Zinsen. Eine schwache Währung. Geringere Löhne, weniger Arbeitnehmerrechte, auch wenn Davis das zurückweist.
Der Brexit-Minister nimmt an, dass die Europäer bei der Freizügigkeit einknicken werden, den Briten aber dennoch freien Zugang zum Binnenmarkt gewähren, weil der britische Markt für sie zu attraktiv ist. Jedenfalls so lange, wie dort der Konsumrausch anhält. Wenn der aber im Gefolge der Brexit-Entscheidung einbricht, und dann auch noch die mit Schulden und ausländischem Kapital finanzierte Immobilienblase platzt, dann müssen Johnson, Davis und die anderen wohl noch einmal nachdenken.
Sollten die EU-Staaten „irrational“ handeln, so Davis, dann könnte Großbritannien etwa Fahrzeugimporte mit Zöllen belegen und das eingenommene Geld für die Aufrüstung der eigenen Autoindustrie verwenden. Wie schnell doch der Schafspelz fällt und aus dem Freihändler der Zollwolf wird, aus dem Marktwirtschaftler der Subventionierer.
Ein Abkommen wie Ceta
In einem Artikel für das konservative Portal „Conservative Home“ hat Davis sogar schon dargelegt, wie man die Regeln der Welthandelsorganisation gegen eine solche Mischung aus Protektionismus und Staatshilfen umgehen kann. Im Übrigen will er gar keinen Anschluss an den EU-Binnenmarkt nach norwegischem oder Schweizer Vorbild, sondern ein Abkommen wie jenes, das die EU mit Kanada vereinbart hat. Ceta statt Europa also. Ceta übrigens enthält keine völlige Niederlassungsfreiheit (was die Norweger und Schweizer akzeptiert haben), aber auch keine große Freiheit bei Finanzdienstleistungen. Die aber wäre, angesichts der Abhängigkeit Großbritanniens vom Finanzsektor, bei einem Abkommen mit der EU für London wesentlich. Mal sehen, wer wirklich einknickt.
Ein Problem der Brexiter ist derzeit, dass sie in ihren Ministerien kaum gute Leute haben, die noch wissen, wie man bilaterale Handelsabkommen vorbereitet und abschließt. Bisher hat das ja das Ancien Regime in Brüssel gemacht. In London dürften daher die Drähte in alle Welt glühen. Davis hat schon Rat bei der kanadischen Regierung gesucht. Die hat mitgeteilt, dass man für das Ceta-Abkommen mit der EU 300 Mitarbeiter eingesetzt habe. Die britische Regierung bräuchte, angesichts des ambitionierten Programms, ein Mehrfaches. Die großen Rechtskanzleien mit globaler Ausrichtung tun wohl gut daran, schon mal ganz global neue Preislisten in Pfund Sterling zu entwerfen.