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Ein Mann hält bei einer Demonstration in Russland ein Foto von Nawalny, auf dem zu lesen ist: "Nawalny wurde vergiftet, wir wissen, wer schuld ist, Alexej du musst leben".
© dpa/Igor Volkov

Aber die Regierung wagt einen ersten Schritt: Der Fall Nawalny stellt die deutsche Außenpolitik vor ein Dilemma

Bisher konnte sich der Kreml darauf verlassen, dass die Bundesregierung nach mahnenden Worten rasch zur Tagesordnung übergeht. Und jetzt? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Claudia von Salzen

Die Nachricht aus Berlin machte weltweit Schlagzeilen. Ärzte der Charité fanden Hinweise für eine Vergiftung des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny. Die Mitteilung entfaltet allein deshalb eine solche Wirkung, weil sie auf diesen Fall mit nüchternen Fakten antwortet.

Das ist so wichtig wie wohltuend in einer Debatte, die auf russischer Seite von Tricks aus der Propagandakiste geprägt ist. Während kremltreue Medien das Gerücht streuten, Nawalny habe wohl zu viel getrunken, mussten die Ärzte in Omsk verkünden, von einer Vergiftung könne nicht die Rede sein, der Mann leide an einer Stoffwechselerkrankung.

So viele verschiedene Geschichten in die Welt setzen, bis die Wahrheit nur eine Variante unter vielen ist und keiner weiß, was er noch glauben soll – mit dieser Methode arbeitet die vom Kreml gesteuerte Propaganda seit Jahren.

Der Mitteilung der Mediziner ließ die Bundesregierung eine klare Botschaft folgen: Sie forderte eine umfassende Aufklärung des Falls Nawalny. Doch an dieser Stelle beginnen die Probleme erst. Denn in Putins Russland wird es eine unabhängige Untersuchung des Anschlags auf den Oppositionspolitiker nicht geben.

Das weiß auch die Bundesregierung. Schließlich ist in Russland bis heute nicht ermittelt worden, wer die Giftanschläge auf mehrere andere Kremlkritiker zu verantworten hat oder den Mord an Boris Nemzow in Auftrag gab.

Auch dieses Mal werden Appelle an die russische Führung ins Leere laufen

Die deutsche Außenpolitik wird also in absehbarer Zeit vor der Frage stehen, wie sie reagieren soll, sobald auch dieses Mal alle Appelle an die russische Führung ins Leere laufen. Wie geht man mit einer Staatsführung um, wenn einige ihrer größten Widersacher und Kritiker seit Jahren auf mysteriöse Weise erkranken oder getötet werden?

[Lesen Sie hier, wie die Nawalny-Diagnose in Russland eingeschätzt wird: „Wenn sie ihn hätten töten wollen, hätten sie ihn getötet“]

Wer den Giftanschlag auf den rund um die Uhr vom Geheimdienst überwachten Alexej Nawalny letztlich in Auftrag gegeben hat, lässt sich derzeit nicht sagen. Dass ein Geheimdienst oder eine andere staatliche Behörde in Russland eine solche Tat ohne Absicherung von oben verüben könnte, gilt allerdings als wenig wahrscheinlich.

In der Charité wird derzeit der Kremlkritiker Alexej Nawalny wegen einer Vergiftung behandelt.
In der Charité wird derzeit der Kremlkritiker Alexej Nawalny wegen einer Vergiftung behandelt.
© Christoph Soeder/dpa

Doch hier geht es nicht um eine strafrechtlich relevante Attribution der Tat, sondern um politische Verantwortung - und um das wichtigste Kapital in der Politik: Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Dieses Kapital hat Russlands Präsident Wladimir Putin schon vor vielen Jahren verspielt, lange vor der Vergiftung Nawalnys und auch lange vor dem Mord mitten in Berlin, für den der Generalbundesanwalt russische staatliche Stellen verantwortlich macht.

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Einige Tage nach den tödlichen Schüssen auf die Journalistin Anna Politkowskaja, die an Putins Geburtstag 2006 im Eingang ihres Wohnhauses ermordet worden war, reiste der russische Präsident nach Dresden. Putin habe ihr eine umfassende Aufklärung des Falls zugesichert, verkündete die Kanzlerin nach dem Treffen. Dann wechselten die beiden das Thema und sprachen über das Pipeline-Projekt Nord Stream. Wer den Mord befahl, wurde nie ermittelt.

Es ist Zeit für eine realistische Russlandpolitik

Nach diesem Prinzip funktioniert die deutsche Russlandpolitik bis heute: Der Kreml konnte sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung nach mahnenden Worten rasch wieder zur Tagesordnung übergeht. Irgendjemand in Deutschland würde schon fordern, man dürfe „den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen“, und das Mantra wiederholen, ohne Moskau seien die Konflikte der Welt nicht zu lösen.

Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde laut Charité vergiftet.
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde laut Charité vergiftet.
© Maxim Shipenkov/EPA/dpa

Wer so etwas sagt, geht darüber hinweg, dass Russland in einigen dieser Konflikte entweder Brandbeschleuniger oder Brandstifter ist. Es ist an der Zeit für eine realistische Russlandpolitik, die sich nicht länger an einem Wunschbild orientiert.

Im Fall Nawalny hat die Bundesregierung immerhin mit dem Personenschutz für den Oppositionellen einen ersten Schritt gemacht. Sie will nicht zulassen, dass in Berlin ein weiterer Anschlag auf den Schwerkranken verübt wird – und hält eine solche Tat nicht für ausgeschlossen. Diese Botschaft sagt mehr als Worte.

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