Gewinner und Verlierer des Konflikts um Polen: Der EU-Gipfel ist noch arbeitsfähig
In Straßburg und Brüssel sehen alle die EU in einer Existenzkrise. Über die Gründe sind sie uneins. Wer musste in der Woche nachgeben, wer nicht? Eine Analyse.
Die EU lebt noch. Und der Europäische Rat, das Treffen der Staats- und Regierungschefs, war am Donnerstag und Freitag arbeitsfähig, trotz des fundamentalen Konflikts um die Justizreform und den Rechtsstaat in Polen, der den Gipfel hätte lähmen können. Das ist die gute Nachricht am Ende einer Woche, in der für alle politischen Lager Europas Zukunft auf dem Spiel stand – und in letzter Konsequenz das Überleben der Union.
Der Streit und die Mittel, mit denen er ausgetragen wird, bedrohen die Existenz, soweit ist man sich einig. Nicht aber darin, von wo die tödliche Gefahr droht.
Die Mehrheit im Parlament argumentiert, Polen schaffe den Rechtsstaat ab und die EU zerstöre sich von innen, wenn sie nicht mit allen Mitteln dagegen vorgehe. Das wirksamste Druckmittel sehen die Abgeordneten im Entzug von EU-Geldern mit Hilfe der neuen Rechtsstaatsklausel bei der Budgetkontrolle.
Polen warnt vor dem Untergang des freiheitlichen Europas, wenn die EU unter Bruch der geltenden Verträge am Ausbau zu einem Superstaat arbeite und den Nationalstaaten immer mehr Kompetenzen entziehe; dafür habe sie kein Mandat der Bürger und der Staaten.
Moralische Sieger enden als faktische Verlierer
Die Pragmatiker in der Kommission und im Rat der Regierungschefs befürchten eine innere Blockade der EU samt der Unfähigkeit, auf globale Krisen zu reagieren, wenn die Gegner Polens den Streit mit Hilfe der Rechtsstaatklausel eskalieren und Polen dann seine Drohung wahrmacht, Entscheidungen, die einstimmig fallen müssen, mit seinem Veto zu blockieren.
Wer sind die Gewinner und Verlierer dieser Europawoche? Wer hat seine Sicht durchgesetzt oder zumindest Boden gut gemacht, wer musste zurückweichen?
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Das Bild ist teils eindeutig, teils gemischt. Da gibt es Akteure, die sich als moralische Sieger fühlen, aber die faktischen Verlierer sind, voran die Kräfte links der Mitte im Europäischen Parlament und der Justizausschuss.
Da gibt es Beteiligte, die diesmal schadlos davon kommen, aber auf mittlere Sicht die Kosten ihres Tuns bezahlen müssen wie Ungarn und andere EU-Staaten, die für Korruption und Vetternwirtschaft bekannt sind. Weiter gibt es Kräfte, die zwar in einzelnen Punkten nachgegeben mussten oder ihr Image durch ihr Auftreten beschädigt haben, aber ihre Position fürs Erste behaupten; dazu zählen Polen und die Europäische Kommission.
Das Parlament kann sich nicht durchsetzen
Die größten Verlierer sind die Kräfte im Parlament, die rasch harte Schritte gegen Polen sehen wollten. Das wird nicht geschehen, lautet die Quintessenz vieler Gespräche im Europäischen Parlament mit Abgeordneten der Grünen, Sozialdemokraten, Liberalen und Christdemokraten, darunter Vorsitzende und Mitglieder der Ausschüsse für Haushalt und Justiz.
Die Kommission, so die Prognosen hinter verschlossenen Türen, werde nicht tun, was der Justizausschuss per Klagedrohung erzwingen will: spätestens Anfang November ein Verfahren auf Basis der neuen Rechtsstaatklausel gegen Polen einzuleiten. Die Kommission wird in einer „Notification“ bekräftigen, was sie mehrfach gesagt hat: Sie wird die Klausel gegen ein Mitglied oder mehrere nutzen, sobald es geht.
Diese „Notification“ wird das Parlament als Vorwand nehmen, um keine Klage einzureichen. Die hat ohnehin wenig Aussicht auf Erfolg, urteilt der Rechtsdienst des Parlaments.
Die erste Anwendung der Budgetklausel lässt auf sich warten
Das erste Verfahren werde auf sich warten lassen und Polen wohl nicht der erste Adressat sein, hört man weiter. Erst muss der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Dezember sein Urteil sprechen, ob die Klausel mit den Europäischen Verträgen vereinbar ist. Das Urteil muss samt Begründung und einer Beschreibung der Kriterien, wann und wie sie angewandt werden sollen, in alle Amtssprachen der EU übersetzt und veröffentlicht werden. Bis dahin dürfte es April oder Mai sein.
Die Kommission wolle sich zudem nicht dem Vorwurf aussetzen, sie habe es auf Polen abgesehen und lege strengere Maßstäbe an als an andere Sünder. Viele wetten, das erste Verfahren werde Ungarn gelten; dort fließen auffällig viele EU-Mittel in Aufträge an Unternehmen von Freunden Viktor Orbans. Auch in Rumänien, Zypern, Griechenland, Malta gebe es mehr Probleme mit Korruption und Vetternwirtschaft als in Polen.
Zu den Verlierern der Woche zählen indirekt auch die polnischen Bürger, die unter der Aushöhlung des Rechtsstaats leiden und gehofft hatten, die EU finde ein wirksames Druckmittel.
Die Gewinner: Polen, die Kommission, Europa und Merkel
Gewinner der Woche sind Polen, die Kommission und Europa. Die Eskalation, die die EU zu blockieren drohte, ist erstmal vom Tisch. Das ist auch ein Sieg für Angela Merkel. Sie mahnt, der Konflikt könne nur im Dialog gelöst werden. Sonst nehme die Handlungsfähigkeit der EU Schaden.
Polens Premier Mateusz Morawiecki hat sich mit seinem Auftritt in Straßburg bei der Mehrheit des Parlaments unbeliebt gemacht und Polens Bild in Europa weiter ramponiert. Aber sein Vorwurf, die EU überschreite ihre Kompetenzen, wird von anderen geteilt, darunter bürgerliche Präsidentschaftskandidaten in Frankreich. Sie billigen nicht die Demontage des Rechtsstaats in Polen, stellen aber ebenfalls die Frage: Auf welche Passagen der Verträge stützt sich der Anspruch, es gebe einen generellen Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht?
Die Kommission baut Polen eine Brücke zur Lösung im Dialog
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verteidigt den Vorrang des europäischen Rechts, gibt den Eskalationswünschen im Parlament aber nicht nach. Sie baut Polen eine Brücke zur Freigabe der EU-Gelder unter drei Bedingungen: erstens, die umstrittene Disziplinarkammer auflösen; zweitens, alle Richter, die von ihr des Amts enthoben wurden, wieder einsetzen; drittens, polnischen Richtern erlauben, den EuGH anzurufen.
Wenn die PiS wenigstens das mal täte, würde die Zahl der Gewinner erfreulich wachsen - und viel weniger Beteiligte müssten sich als Verlierer fühlen.