Venezuela nach Hugo Chávez: Der Erdölsozialismus ist am Ende
Lange Schlangen vor den Läden, Inflation, wachsender Unmut – seit dem Tod von Hugo Chávez geht es mit Venezuela steil bergab. Die aktuelle Wirtschaftskrise droht das Land in den Ruin zu treiben.
Eigentlich ist es in Venezuela verboten, Fotos von Warteschlangen zu machen. Doch Kolumbiens Ex-Präsident Andrés Pastrana, der dieser Tage die Opposition in Caracas besuchte, konnte der Versuchung nicht widerstehen und postete auf Twitter das Bild einer beeindruckenden Menge mit dem Kommentar: "Für Präsident Nicolás Maduro existiert dies nicht." Für die 30 Millionen Normalbürger aber gehört Schlangestehen seit einigen Monaten zum Alltag. Vom Klopapier über Eier bis zum Aspirin gibt es nichts mehr ohne Nummer und stundenlange Warterei. Lkw-Fahrer klagen über bewaffnete Wegelagerer, und dass ihnen die Waren schon beim Abladen aus der Hand gerissen werden. Nachts sind sie gar nicht mehr unterwegs. Mit 82 Morden auf 100 000 Einwohner gehört Venezuela zu den gefährlichsten Ländern der Welt.
Umverteilungspolitik für Millionen - im Gegenzug für politische Gefolgschaft
Seit dem Tod des charismatischen Führers Hugo Chávez im Jahr 2013 geht es bergab. Was aber nicht nur am fehlenden Talent seines Nachfolgers Maduro liegt, sondern vor allem am Staatsmodell, wie der Leiter des Umfrageinstituts Datanalisis, Luis Vicente Leon, betont. Dessen Basis ist eine Umverteilungspolitik, mit der Millionen im Gegenzug für politische Gefolgschaft bei der Stange gehalten werden. Der aufgeblähte Staatsapparat des südamerikanischen Landes an der Karibikküste gehört ebenso dazu wie subventionierte Lebensmittel und Benzinpreise sowie Sozialhilfen aller Art – für Mütter über Studenten bis hin zu Rentnern.
Finanziert wurde das alles durch das Erdöl, viel anderes produziert Venezuela nicht. Drei Viertel seiner Konsumgüter, einschließlich Nahrungsmittel, importiert das Land. Dafür bekommen die Importeure Lizenzen und Devisen zu einem staatlich festgesetzten Wechselkurs. Das ist zusammen mit Preiskontrollen, Steuererhöhungen, Arbeitsplatzsicherheit und Enteignungen integraler Bestandteil des chavistischen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Die Unternehmer beklagen sich seit eh und je, dass die staatlichen Kontrollen den Markt verzerren und die Korruption fördern. Trotzdem ging das dank der Erdöl-Hausse die vergangenen zehn Jahre gut. Doch seit der Preis in den Keller gestürzt ist, kommt der Erdölsozialismus in Bedrängnis – und mit ihm Maduro.
Die Inflation liegt bei über 60 Prozent
Um 2,8 Prozent ist die Wirtschaft im Vorjahr geschrumpft, die Inflation liegt bei über 60 Prozent. Der Kreditrahmen ist auch international ausgeschöpft, deshalb hat die Zentralbank die Notenpresse angeworfen. Ökonomen sehen nur einen unpopulären Ausweg: eine Abwertung und einen Sparkurs. Doch das ist nicht nur ideologisch als "neoliberales Gift" verpönt, sondern auch konjunkturell problematisch, denn Ende des Jahres finden Parlamentswahlen statt, bei denen die Regierung dann ihre Mehrheit verlieren könnte – trotz Kontrolle des Wahlrats, Medienhegemonie und Manipulationen des Wahlrechts und der Wahlkreise.
Ein Sparkurs erinnert außerdem an historische Tabus: In Venezuela sitzt die Furcht der Regierenden vor einem neuen "caracazo" tief, dem Volksaufstand, der 1989 gegen das Sparpaket von Präsident Carlos Andrés Pérez ausbrach und Plünderungen, militärische Repression, politische Instabilität, Putschversuche und die Absetzung des Präsidenten wegen Korruption zur Folge hatte. Ein blutiges Chaos, das sich nach Ansicht des Regierungskritikers Carlos Alberto Montaner durchaus in einer historischen Kapriole wiederholen könnte. Sowohl die Diktatur von Marco Pérez Jímenez der 50er Jahre als auch die 4. Republik in den 70er Jahren hatten eine Blütephase dank einer Ölhausse und scheiterten dann an exorbitanten Staatsausgaben, Autoritarismus, Klientelismus, Hyperinflation und fallenden Erdölpreisen.
In Umfragen unterstützen nur noch 22 Prozent Präsident Nicolás Maduro
Bereits am Wochenende nahmen Zehntausende am „Marsch der leeren Töpfe“ teil, der von der bürgerlichen Opposition einberufen worden war. Gleichzeitig mobilisierte auch die Regierung ihre Anhänger. Maduro versprach Lohnerhöhungen und kritisierte die "Sabotage" und den "Wirtschaftsputsch der kriminellen Bourgeoisie". Polarisierung ist eines der Rezepte des Chavismus. Doch die Brandreden, die bei Chávez auf fruchtbaren Boden fielen, verlieren unter Maduro an Wirkung. Nur noch bei 22 Prozent der Bevölkerung genießt er laut Datanalisis Unterstützung.
Auch seine Position innerhalb des Chavismus sei schwach, gibt der Historiker Carlos Malamud zu bedenken. Nicolás Maduro gilt als Vertrauensmann der Kubaner, die von Venezuelas billigen Öllieferungen abhängen. Doch er teilt seine Macht mit Parlamentspräsident Diosdado Cabello, hinter dem wiederum die Militärs stehen. Sie gehören zu den Nutznießern des Modells, da viele Offiziere wirtschaftliche Schlüsselstellen besetzen und sich bereichert haben. Verschlechtert sich die Lage weiter, sei ein Putsch nicht auszuschließen, berichtete der US-Thinktank Stratfor. Auch kursiert das Gerücht, dass die Wahlen abgesagt werden.
Die Organisation Amerikanischer Staaten bevorzugt einen Pakt der Nationalen Einheit
Doch beides würde Venezuela zum Paria machen und die Gräben innerhalb der Regierung vertiefen. Der einzig verfassungsmäßige Ausweg wären ein Rücktritt Maduros und Neuwahlen. Malamud zufolge wäre es weder sicher, dass der Chavismus dann komplett zerfiele, noch dass die zerstrittene Opposition mit ihren begrenzten Ressourcen den Sieg davontrüge und in der Lage wäre, das Land zu stabilisieren. Am unwahrscheinlichsten ist wohl das Szenario, das die Internationale Gemeinschaft, allen voran die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bevorzugt: ein Pakt der Nationalen Einheit, bei dem sich die Streithähne zum Wohl des Landes zusammenraufen.
Sandra Weiss
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