Migration übers Mittelmeer: Der deutsche „Geht nicht“-Wahn
In der Flüchtlingskrise 2017 droht Deutschland sich in Europa erneut zu isolieren. Was hat die Öffentlichkeit seit Herbst 2015 gelernt? Ein Kommentar.
Die Flüchtlingskrise ist zurück. Statt über die Ägäis wie 2015 kommen die Menschen wieder übers Mittelmeer nach Italien. Nichts geändert hat sich an den deutschen Debattenritualen. Der Tenor zu den vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen: „geht nicht“ oder „verstößt gegen Völkerrecht“. Dabei hat die Erfahrung gezeigt, dass vieles durchaus geht, was dieser Grundtenor 2015 nicht wahrhaben wollte.
Grenzen kann man schützen, Küsten auch
Damals hieß es, Grenzen könne man nicht schützen. Natürlich durfte die moralische Aufladung nicht fehlen: „Ihr wollt doch nicht auf Flüchtlinge schießen?“ Dann zeigten die Balkanstaaten, dass man Grenzen schützen kann, ohne scharf zu schießen. Auch die Türkei half, den Strom zu drosseln.
Grenzen müssen sein und der Zugang muss kontrollierbar sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass alle Flüchtlinge draußen bleiben müssen.
schreibt NutzerIn Gophi
Doch zu den deutschen Debattenritualen in solchen Situationen gehört auch, dass man nicht zugibt, sich geirrt zu haben, sondern die moralische Oberhoheit verteidigt. Man wollte das Gute, und wenn die erdrückende Mehrzahl der Partner es anders sieht, beweist das nur ihre Kaltherzigkeit.
2017 wird so getan, als sei die Massenflucht in seeuntüchtigen Booten von Nordafrika nach Europa eine unabänderliche Naturgewalt. „Ihr wollt die doch nicht ertrinken lassen?“ Manche Äußerungen klingen nach klammheimlicher Freude, dass EU-Staaten ihre Ohnmacht eingestehen müssen.
Deutsche sagen: Geht nicht. Andere fragen: Was kann man machen?
Wie damals droht Deutschland sich mit seiner „Geht nicht“-Haltung auch diesmal zu isolieren – und ein bisschen lächerlich zu machen. „Die wollen die Führungsmacht Europas sein?“, staunen die Nachbarn. Italien, Frankreich, Österreich fragen umgekehrt: Was könnte gehen? Sie halten den Kontrollverlust für nicht hinnehmbar. Und finden Unterstützung in Europa. Italien sendet Kriegsschiffe in die Gewässer vor Libyen, um dessen Küstenwache zu unterstützen. Rom geht gegen Hilfsorganisationen vor, die im Verdacht stehen, mit Schleppern zu kooperieren. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron denkt über UN-kontrollierte Hotspots in Libyen nach, damit die Migranten erst gar nicht aufs Mittelmeer gehen, sondern dort entschieden wird, wer Anspruch auf Aufnahme in der EU hat und wer nicht.
Es wird ein wenig dauern, bis sich zeigt, welche Maßnahmen greifen und welche nicht. Und bis Völkerrechtler und Gerichtsinstanzen geklärt haben, was zulässig ist und was nicht. Aber hier zeigt sich der Wille, die Dynamik zu beeinflussen, statt sie zu erleiden.
Missbrauch der Regeln der Seenotrettung
Deutschland hingegen diskutiert Theorie, oft in krassem Gegensatz zu den tatsächlichen Vorgängen. Es sei angeblich unzumutbar, Menschen, die aus Libyen kommen, dorthin zu bringen. Die Betroffenen haben das offenkundig nicht so gesehen, als sie die Route über Libyen wählten.
Auch die Vorgaben für die Seenotrettung werden missbraucht. Ja, ein Handelsschiff auf der Fahrt von A nach B muss notfalls vom Kurs abweichen, um Menschen aus Seenot zu retten und sie in den nächsten Hafen bringen, ehe es seine Fahrt fortsetzen kann. Doch die Helferschiffe sind gar nicht auf der Fahrt von A nach B, sondern warten vor Libyen auf Notrufe von Menschen, die viel Geld an Schlepper dafür bezahlt haben, dass diese sie mutwillig in Seenot bringen. Und dann wollen die Helfer die Aufgefischten auch nicht in den nächsten erreichbaren Hafen in Libyen bringen, sondern sie auf Sammelschiffe umladen, die Kurs auf Italien nehmen.
Es ist verständlich, dass Italien das nicht hinnehmen möchte. Und darauf verweist, dass Schlepper und Helfer zumindest in einem Punkt ein ähnliches finanzielles Interesse haben: möglichst viele Bootsflüchtlinge. Wenn deren Zahl sinkt, verdienen die Schlepper weniger und erhalten die Hilfsorganisationen weniger Spenden.
Migranten haben Smartphones. Warum nicht digitale Pässe in der Cloud?
Vorschriften und Rechtsprechung sollten an die neue Lage angepasst werden. Sie sind in ganz anderen Situationen entstanden. Das gilt auch für den Umgang mit Migranten, die ihre Pässe vernichten, um die Abschiebung zu erschweren. Nahezu jeder Flüchtling hat heute ein Smartphone und steht auf der langen Reise in regelmäßigem Kontakt mit Menschen in der Heimat und am Fluchtziel. Jeder hat die Pflicht, bei der Identitätsfeststellung mitzuwirken. Ist es zu viel verlangt, im Regelfall zu erwarten, dass der Flüchtling eine digitale Ausweiskopie in der Cloud hat? Das würde die Beweislast umdrehen: Wer Asyl sucht, soll begründen, warum die Mithilfe beim Identitätsnachweis nicht geht. Nicht der Staat, der über Asyl entscheidet, hat die Bürde. Die führt zu Wartezeiten und Kosten. Am Ende werden die meisten dennoch abgelehnt.
Geht nicht? Auch Deutschland könnte mal rechtzeitig umpolen auf die Frage, was geht.