Flüchtlinge, Euro, TTIP: Warum die Deutschen gar nicht so gute Europäer sind
Ob Frankreich oder Polen: Wo man hinschaut, sind die EU-Befürworter in der Defensive. Und die Deutschen? Zwängen den anderen ihre Sichtweisen auf. Ein Essay.
Wo sind all die Europäer geblieben? Gibt es überhaupt noch genug Bürger und Politiker, die die Europäische Union zu einem Erfolg machen wollen? Wohin man blickt, ist ein Rückzug ins Nationale zu beobachten. Wohin man hört, wird auf Europa geschimpft oder über seine Untätigkeit geklagt.
Der Wahlerfolg der nationalpopulistischen PiS (Recht und Gerechtigkeit) in Polen gegen eine pro-europäische Regierung, die auf große ökonomische Erfolge verweisen kann, ist ja nur ein Beispiel von vielen. Die Pro-Europäer sind überall in der Defensive, nicht nur in den EU-Staaten im Osten, die der Union 2004 beigetreten sind, sondern auch in Alt-Mitgliedsländern im Westen: in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden.
Nicht jeder EU-Zweifler ist rechtsradikal
Es ist üblich und naheliegend, den besorgniserregenden Trend mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte zu belegen. In Schweden, das bisher besonders gastfreundlich zu Flüchtlingen und Migranten war, hat sich die Zustimmung zu den Schwedendemokraten verdoppelt. Bei der Wahl 2014 gewannen sie 12,8 Prozent, in einer Umfrage vom August 2015 sind sie mit 25,2 Prozent zur stärksten Partei aufgestiegen. In Dänemark ist die rechte Volkspartei mit 21 Prozent bei der Wahl 2014 eine fest etablierte Kraft, in Finnland die Partei der Finnen mit über 17 Prozent. In Frankreich erklärten im Oktober 31 Prozent der Bürger, dass sie bei der Präsidentschaftswahl 2017 für Marine Le Pen vom Front National stimmen wollen.
Diese Form der Beweisführung ist einerseits instruktiv. Der Unmut über Europa wächst. Wenig andere Indikatoren belegen den Stimmungsumschwung ähnlich eindringlich. Andererseits engt die Fokussierung auf Rechtspopulisten den Blick ein. Nicht jeder, der Zweifel an EU-Europa und seiner Fähigkeit, die drängendsten Probleme zu lösen, äußert, ist gleich ein Anti-Europäer oder gar ein Rechtsradikaler. Die Ablehnung supranationaler Lösungsansätze und der Rückzug ins Nationale ist kein Monopol der Rechten. Da finden sich viele Parallelen zur Gedankenwelt linker Globalisierungskritiker: gegen das Kapital, gegen die Hochfinanz, gegen die USA. Am Protesttag gegen das Transatlantische Wirtschaftsabkommen TTIP marschierten Linke und Rechte gemeinsam.
Der Vertrauensverlust der EU hat längst die Mitte der Gesellschaft erfasst. In Deutschland ist bisher kein so signifikanter Anstieg der Zustimmung zu rechten Kräften wie in anderen EU-Ländern zu beobachten. Das dürfte auch mit der deutschen Geschichte zu tun haben und dem laut einer Allensbach-Studie vom Oktober verbreiteten Gefühl, dass man Kritisches zu den Flüchtlingsströmen nicht laut sagen dürfe.
Eine Erhebung des Portals Statista im Frühjahr 2015 ergab: Nur 39 Prozent der Deutschen haben Vertrauen in die EU, 48 Prozent kein Vertrauen. Das war, bevor die Flüchtlingskrise ins breite Bewusstsein drang. Die Zahlen dürften heute noch trauriger sein. Denn mit Europa lässt sich derzeit schwerlich punkten. Die Bürger erleben die EU als hilflos in den großen Krisen, von Griechenland über Russlands Krieg in der Ukraine bis zu den Migrationsströmen.
Maßstäbe so ehrgeizlos, dass es nach Kabarett klingt
Um sich dennoch eines Erfolgs zu brüsten, setzen Pro-Europäer die Maßstäbe für Erfolg mitunter so ehrgeizlos niedrig an, dass es nach Kabarett klingt. Als Kriterium in der Ukraine gilt nicht, ob es Europa gelingt, die Kämpfe dort zu beenden und die Annexion der Krim rückgängig zu machen. Dabei stellen sie einen Anschlag auf Europas Grundgesetz dar: auf die gemeinsam mit Russland beschlossene Charta von Paris, die Gewalt und erzwungene Grenzänderungen verbietet. Ein Erfolg ist es angeblich schon, dass sich die EU in der Frage der Sanktionen gegen Russland bisher nicht hat spalten lassen. Mal schauen, ob das beim nächsten Beschluss im Januar noch gilt.
Als Maßstab in der Eurokrise zählt nicht, ob Europa die vereinbarten Regeln zur Finanzdisziplin künftig durchsetzen kann, ehe ein Land bankrott ist. Für das Eigenlob genügt es, dass Griechenland der Gemeinschaftswährung weiter angehört. Nach dem Preis fragen die Befürworter nicht, auch nicht danach, ob der eingeschlagene Weg Griechenland eine nachhaltige Zukunft eröffnet.
Wer nach der EU ruft, muss auch bereit sein, das Asylrecht zu ändern
In der Flüchtlingskrise möchte Europa sich dafür feiern lassen, dass es einen Schlüssel für die Verteilung von 120 000 Migranten gefunden hat – obwohl in diesem Jahr anderthalb Millionen nach Europa kommen – und dass es eines näheren oder ferneren Tages genügend Aufnahmezentren an den Außengrenzen der EU geben soll. Die Diskrepanz zwischen dem, was nötig wäre, und dem, was Europa praktisch anbieten kann, wird in allen drei Beispielen schmerzlich sichtbar.
Und was sollen junge Menschen angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit von Europa halten? Ein Kontinent, der ihnen Chancen verweigert. Minderjährige sind laut einer Bertelsmann-Studie aus der vergangenen Woche die größten Verlierer der Wirtschafts- und Schuldenkrise der EU.
Das schlechte Image der EU ist kein Wunder. Wenn sie Erwartungen weckt, die sie nicht erfüllt, wenden sich die Menschen ab und erhoffen sich Schutz vom Nationalstaat. Der ist ihnen seit Jahrhunderten vertraut. Da hilft auch das Argument wenig, dass nationale Antworten in einer globalisierten Welt nicht ausreichen. Menschen, die an der EU zweifeln, wird der Hinweis, dass der Nationalstaat es ebenso wenig kann, kaum überzeugen.
Die Diagnose weist den Weg zur Therapie. Vertrauen in die europäische Integration und in die EU-Institutionen werden die Bürger erst wieder setzen, wenn dieses Europa überzeugende Antworten auf die drängendsten Probleme findet und Lösungen anbietet, die tatsächlich Abhilfe schaffen. Nichts ist erfolgreicher als sichtbarer Erfolg.
Da beißt sich die europäische Katze in den Schwanz. Gemeinschaftserfolge wird es nur geben, wenn die Mitgliedsstaaten bereit sind, mehr dafür zu tun. Das verlangt Offenheit und Neugier, wie die Mehrheiten in den anderen der 28 EU-Staaten denken. Und die Bereitschaft, im Dienste eines europäischen Kompromisses die eigene nationale Sicht zur Disposition zu stellen.
Das ist auch eine Herausforderung für die Deutschen, genauer: besonders für sie. Deutsche halten sich nach aller Erfahrung für besonders gute Europäer. Sie meinen, die Lehren aus zwei Weltkriegen verinnerlicht zu haben. Aber zeigen sie die Bereitschaft zu europäischem Denken, wenn es darauf ankommt? Zum Beispiel in der Flüchtlingskrise. Viele fordern: Wir brauchen eine europäische Lösung, ein europäisches Asyl- und Flüchtlingsrecht. Erstaunlicherweise beharren jedoch viele von denen, die danach rufen, darauf, dass sich am deutschen Asylrecht nichts ändern dürfe. Wie soll die EU zu einem einheitlichen Asylrecht kommen, wenn alle so argumentieren: Anpassen sollen sich die anderen, wir nicht?
Die Deutschen stehen in der EU im Ruf, nationale Interessen zu verteidigen
Zum Beispiel, Datenschutz und Vorratsdatenspeicherung. Als der Europäische Gerichtshof das „Safe Harbor“-Abkommen mit den USA über den Austausch von personenbezogenen Daten und deren Speicherung auf Servern in den USA kürzlich für ungültig erklärte, jubelte die Netzgemeinde. Nun müsse neu verhandelt werden. Europa könne seine Vorstellungen von Datenschutz gegen die USA durchsetzen. Nur: Gibt es diese gemeinsamen europäischen Vorstellungen überhaupt?
Wenige Tage später verabschiedete der Bundestag die Gesetzesnovelle zur Vorratsdatenspeicherung, ohne groß Rücksicht auf das sinnvolle Ziel einer europäischen Harmonisierung zu nehmen. Das neue deutsche Gesetz sieht zehn Wochen Speicherung vor. Gibt es ein weiteres EU-Land mit dieser Frist? Die Briten und Franzosen erlauben zwölf Monate, die Schweden sechs Monate. Europa müsste sich erst mal intern einigen, um erfolgreich mit den USA verhandeln zu können. Und ein Deutschland, das dieses Ziel verfolgt, müsste der erste Staat sein, der sich bei seiner nationalen Neuregelung auch daran orientiert, wie ein europäischer Konsens mutmaßlich aussehen könnte
In anderen EU-Staaten und in Brüssel gelten die Deutschen im Übrigen gar nicht als besonders eifrige Vorkämpfer europäischer Lösungen. Sie stehen eher im Ruf, ihre nationalen Wirtschaftsinteressen effektiv zu verteidigen. Zum Beispiel bei den Abgaswerten. Die EU ist gerade dabei, die Vorgaben für Autoabgase und deren Messung so zu überarbeiten, dass die Testergebnisse nicht mehr so märchenhaft weit vom Alltagsbetrieb abweichen. Dagegen wehren sich die Lobbyisten der Autoindustrie, unterstützt von der Bundesregierung, unbeeindruckt vom VW-Abgasskandal.
Besonders krass zeigt sich die Diskrepanz in der Flüchtlingskrise
Besonders krass zeigt sich die Diskrepanz zwischen der deutschen Selbstsicht, gute Europäer zu sein, und der Wahrnehmung von außen, dass wir Deutschen oft dazu neigen, unsere Sicht den anderen aufzuzwingen, in der Flüchtlingskrise. Viele Deutsche und die Bundesregierung verstehen ihr Land als den EU-Staat – neben Schweden –, der die europäischen Werte, die Humanität und das Flüchtlingsrecht am höchsten achtet. Viele EU- Partner sehen in Deutschland den Partner, der die europäischen Abmachungen des Dublin-Systems rücksichtslos gebrochen hat und durch sein selbstherrliches, unabgestimmtes Vorgehen seine Partner in Schwierigkeiten bringt.
Ein derart unkalkulierbares Deutschland macht den Partnern Angst. Ein Land, das so tut, als könne man Migration nur erleiden, nicht aber steuern. Als könne man Grenzen nicht sichern. Als gebe es keine Alternative zum Kontrollverlust. Man könnte, zum Beispiel, eine aktive Aufklärungskampagne in den Herkunfts- und Transitländern gegen die Propaganda der Schlepper führen, die für ihr Geschäft damit werben, dass auf jeden in Deutschland ein Haus und ein Auto warte. Im Sommer hat sich im Fall Albanien gezeigt, dass eine Kombination aus Anzeigen in dortigen Medien und paralleler Abschiebungen den Zustrom drastisch reduzierte. Die Bundeswehr kann, wenn die Regierung das will, die Grenzen sichern und erreichen, dass Migranten fast nur über Grenzübergänge ins Land kommen. Ein Deutschland, das den Vorsatz „Wir schaffen das“ nicht nur auf die Aufnahme anwendet, sondern auch auf die Abschreckung unberechtigter Migranten, würde den EU-Partnern mehr Vertrauen einflößen.
Der eigentliche und auf Dauer bedrohlichste Spaltkeil in Europa aber ist das mangelnde Wissen darüber und erodierende Verständnis dafür, dass andere Völker andere Sichtweisen haben und warum. 28 EU-Partner werden zwangsläufig nicht immer einer Meinung sein. Zusammenfinden werden sie nur mit einem Mindestmaß an Empathie und Respekt vor einander. In kleineren Staaten ist das Bewusstsein, dass man sich dafür interessieren muss, was die – größeren – Nachbarn denken, automatisch vorhanden. Bürger kleinerer Nationen verstehen zudem öfter die Sprachen größerer Nachbarvölker als umgekehrt. Niederländer und Dänen sind besser über die wichtigsten Nachrichten aus Deutschland informiert als umgekehrt.
Die Deutschen merken nicht so leicht, wie sie in der Minderheit sind
Daraus resultiert eine spezielle Herausforderung für die Deutschen als bevölkerungsreichste Nation in der EU. Und ein besonderes Risiko. Sie laufen eher Gefahr als andere, nicht zu merken, wenn sie in einer Minderheitenposition in der EU sind. Das gilt für die Flüchtlingspolitik. Es gilt auch für die Gespräche über Freihandel, die anderswo in Europa weniger umstritten sind als hierzulande.
Über die EU gibt es den schönen Satz, sie sei wie ein Fahrrad: Entweder sie bewegt sich vorwärts oder sie fällt um. In der Tat besteht die reale Gefahr, dass der Zusammenhalt in EU-Europa sich unter dem Druck der vielfältigen Krisen auflöst. Die Sorge um Wirtschaft und Arbeitslosenrate in vielen anderen EU-Staaten, die Migrationsströme, der Krieg in der Ukraine – viele empfinden das in der Summe als Überforderung und sehen in der EU eher einen Teil des Problems als der Lösung.
Mit Weitblick und Augenmaß gegen Kleinmut
Findet Europa die Kraft, diese kleinmütige Stimmung zu wenden? Haben Staaten wie Deutschland die Energie, mit Weitblick und Augenmaß gemeinsame Lösungen auszuloten, die in der EU mehrheitsfähig wären? Und wird die Bundesregierung bei den Bürgern offensiv dafür werben, dass eine europäische Lösung zwangsläufig bedeutet, die nationalen Regelungen anzupassen?
Wenn EU-Europa durch gemeinsame Anstrengungen und sichtbare Ergebnisse überzeugt, wird es auch wieder genug Europäer geben, die sich nicht ins Nationale zurückziehen.