Bis zum 31. Oktober: Der Brexit wird ein weiteres Mal verschoben – aber flexibel
Die EU hat Theresa May einen Aufschub des Brexits bis Ende Oktober gewährt. "Ein sehr intensiver Abend", kommentiert Merkel.
Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wird abermals verschoben, um einen Chaos-Brexit am Freitag zu verhindern. Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßte die Einigung, zumal der bereits für Freitag befürchtete Chaos-Brexit noch einmal abgewendet wurde. Es sei „ein sehr intensiver, sehr guter Abend“ gewesen, der die Einigkeit der EU gezeigt habe, sagte sie. Allerdings war über die Länge des Aufschubs auf dem Gipfel in Brüssel zuvor heftig gestritten worden. Der französische Präsident Emmanuel Macron wandte sich gegen den Wunsch Merkels und anderer Länder, Großbritannien noch deutlich länger Zeit zu geben.
Am Ende bot die EU bot Premierministerin Theresa May in der Nacht zu Donnerstag an, den Austrittstermin auf den 31. Oktober zu verlegen. Ratspräsident Donald Tusk unterbreitete der britischen Regierungschefin die Offerte in einem Vier-Augen-Gespräch. Kurz vor 2 Uhr meldete er Vollzug: Großbritannien und die übrigen 27 EU-Staaten hätten sich auf eine „flexible“ Verschiebung des Austrittstermin bis Ende Oktober verständigt, schrieb Tusk bei Twitter.
Ein sehr intensiver, sehr guter Abend
Angela Merkel
Die Einigung umfasst auch einen Zwischenschritt. Demnach wird im Juni überprüft, ob schon ein früherer Austritt möglich ist, nämlich zum 30. Juni, wie von May beantragt. Ein Korrespondent der „Sunday Times“ berichtete überdies, dass Großbritannien damit auch Ende Mai an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen müsse – oder andernfalls zum 1. Juni aus der EU ausscheiden solle. Das aber wäre dann der No-Deal-Brexit, den alle Seiten vermeiden wollen, und gegen den sich auch das britische Unterhaus wiederholt ausgesprochen hat.
Tusk an die Briten: „Verschwenden Sie diese Zeit nicht!“
„Bitte verschwenden Sie diese Zeit nicht!“, appellierte Tusk bei einer Pressekonferenz an die Politiker auf der Insel. Das Vereinigte Königreich habe nun weitere sechs Monate Zeit, „die bestmögliche Lösung zu finden“. Der Aufschub sei so flexibel, wie er sich das gewünscht habe, wenn auch nicht so lang wie erhofft, sagte der Präsident des Europäischen Rats. Doch es sei möglich, bis dahin eine Lösung zu finden.
Der 31. Oktober ist zufällig auch Halloween, aber er ist nicht zufällig gewählt. Dann endet nämlich die Amtszeit von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Falls die Frist ausgereizt werde, hoffe er, ohne eine weitere Nachtsitzung auszukommen, sagte der Luxemburger bei der Pressekonferenz mit Tusk. Andernfalls müsse er um Mitternacht, wenn der 1. November anbricht, den Gipfel verlassen, scherzte Juncker.
Die EU-Staaten wollen vermeiden, dass der Brexit die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft untergräbt. Insbesondere soll er nicht in die Zeit fallen, in der die neue EU-Kommission nach der Europawahl ihr Amt antritt. „Ziel ist es, dass die europäischen Institutionen vorankommen können und dass der Brexit weniger Auswirkungen auf ihr Funktionieren hat“, hieß es aus französischen Regierungskreisen.
May stellte heraus, dass ihr die Flexibilität der Vereinbarung besonders wichtig sei. Das bedeute auch, dass Großbritannien sogar auf eine Teilnahme an der Europawahl verzichten könne, sollte das Parlament in London im April oder in den ersten drei Wochen im Mai den Austrittsvertrag annehmen. Sie verstehe auch, dass es eine große Frustration über die fortgesetzten Verzögerungen gebe, sagte die Premierministerin bei einer Pressekonferenz in Brüssel. „Eigentlich sollten wir die Europäische Union längst verlassen haben.“ Sie wolle daran arbeiten, dass dies nun so schnell wie möglich gelinge.
Bei dem Krisengipfel in Brüssel hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die übrigen EU-Staats- und Regierungschefs am Mittwochabend stundenlang darum gerungen, ob sie einen kurzen oder längeren Aufschub gewährt sollten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ging auf Konfrontationskurs und beharrte auf strikten Bedingungen für eine längere Austrittsfrist.
Macron stemmte sich gegen längeren Aufschub
Die britische Premierministerin Theresa May hatte einen Aufschub bis zum 30. Juni beantragt. Sie wollte den Austritt noch vor der Europawahl Ende Mai geordnet schaffen. Merkel hatte dagegen erklärt, eine deutlich längere Verschiebung zu erwarten. Während der Verhandlungen waren in Brüssel sogar neun bis zwölf Monate im Gespräch. Macron wollte das jedoch nicht einfach durchwinken. Aus französischen Regierungskreisen hieß es, für einen langen Aufschub habe May nicht genug Garantien geboten.
Bei ihrer Ankunft in Brüssel erinnerte die Kanzlerin an die historische Verantwortung und das Eigeninteresse der Europäischen Union, einen ungeregelten Austritt am bisher vorgesehenen Brexit-Termin 12. April - das ist am Freitag - zu vermeiden. Die 27 bleibenden Länder sollten offen und konstruktiv über die britische Bitte um Aufschub diskutieren. „Ich habe keinen Zweifel, dass wir diese Einigkeit der 27 auch wieder erreichen werden“, sagte die CDU-Politikerin.
May stand eine Stunde lang Rede und Antwort
Zu Beginn des Gipfels trug May im Kreis der übrigen Staats- und Regierungschefs ihre Ideen vor und beantwortete auch mehr als eine Stunde lang Fragen. Die Runde sei konstruktiv gewesen, hieß es anschließend von EU-Diplomaten. May habe den Eindruck vermittelt, dass sie eine Verschiebung über den 30. Juni hinaus akzeptieren würde, sofern Großbritannien auch früher geregelt ausscheiden könnte. Am Abend berieten die 27 bleibenden Staaten dann ohne May weiter. Französische Regierungskreise informierten während der Verhandlungen über Macrons Bedenken.
Dass es eine weitere Verschiebung geben soll, war bereits in den Stunden vor dem Gipfel im Kreis der 27 Länder weitgehend geklärt. So zeigte sich der irische Premier Leo Varadkar sicher, dass die EU einen Konsens erzielen werde, „Großbritannien ein bisschen mehr Zeit zu geben“. Er rechne nicht mit einem Austritt des Landes am Freitag.
Die meisten EU-Staaten wollen einige Monate Ruhe
Macron hatte jedoch schon bei seiner Ankunft öffentlich auf Bedingungen beharrt. Die Handlungsfähigkeit der EU dürfe nicht beeinträchtigt werden und Großbritannien müsse Klarheit über den Zweck des Aufschubs schaffen. Noch sei alles offen, sagte Macron zu Berichten, dass es auf eine lange Verschiebung des britischen EU-Austritts hinauslaufe.
Ein langer Aufschub war nach Darstellung von Diplomaten der Wunsch der meisten EU-Staaten, um für einige Monate Ruhe in den Austrittsprozess zu bringen. Als Daten waren Stichtage im Dezember 2019, im Februar oder März 2020 im Gespräch. Merkel sagte bereits am Mittwochnachmittag im Bundestag: „Es kann gut sein, dass es eine längere Verlängerung als die von der britischen Premierministerin erbetene ist.“ Großbritannien soll aber früher gehen können, sobald in London eine Lösung steht.
May steckt in der Klemme, weil das britische Parlament den mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag inzwischen bereits drei Mal abgelehnt hat. Wegen der Blockade war der Brexit schon einmal vom 29. März auf den 12. April verschoben worden. Kurzfristig begonnene Vermittlungsgespräche mit Labour-Chef Jeremy Corbyn brachten noch keine Lösung, sollen aber an diesem Donnerstag weitergehen. Die oppositionelle Labour-Partei will eine weichere Form des Brexits mit einer Zollunion und eine engeren Anbindung an die EU, was Hardliner in Mays Konservativer Partei jedoch kategorisch ablehnen.
Die Premierministerin hofft, den Knoten noch kurzfristig zu lösen, eine Mehrheit im Parlament zu finden und ihr Land noch vor der Europawahl vom 23. bis 26. Mai mit Vertrag aus der EU zu führen. Dann träte eine Übergangsphase in Kraft. Großbritannien müsste nicht mehr mitwählen und keine neuen Abgeordneten ins EU-Parlament schicken. Das wäre auch vielen EU-Politikern das liebste.
Briten sollen in wichtige EU-Entscheidungen nicht eingreifen
Zur Sicherheit will May in Großbritannien aber eine EU-Wahl am 23. Mai vorbereiten. Das hatten die 27 bleibenden EU-Länder als Bedingung formuliert. Die Wahlteilnahme soll sicherstellen, dass es keine rechtlichen Schwierigkeiten gibt, wenn Großbritannien im Sommer noch EU-Mitglied sein sollte, aber keine EU-Abgeordneten gewählt hat.
Eine weitere Bedingung für eine Brexit-Verschiebung sollte dem Entwurf zufolge sein, dass sich die britische Regierung verpflichtet, im Rat der Mitgliedsländer bei wichtigen EU-Entscheidungen nicht einzugreifen. Relevant könnte dies bei der Auswahl des nächsten EU-Kommissionschefs oder den Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis Ende 2027 sein. Der Entwurf der Gipfelerklärung wurde in diesem Sinne während der Beratungen noch angespitzt. (mit dpa, AFP)