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Ein Schild gegen eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland
© dpa/Mariusz Smiejek

Großbritannien: Der Brexit spaltet Nordirland

Eigentlich hatten sich Katholiken und Protestanten in Nordirland versöhnt. Dann kam das britische Votum für den Austritt aus der Europäischen Union.

Manchmal kommt es Ernie Wilson so vor, als sei alles erst gestern passiert. Dabei liegt der Sommertag, der das Leben des weißhaarigen Herrn veränderte, bereits dreißig Jahre zurück. Wilson hatte gerade im nordirischen Städtchen Lisnaskea seinen Schulbus in den zweiten Gang geschaltet, da blendete ihn ein greller Schein, „als sei direkt vor meinen Augen der Blitz eingeschlagen“. Einen Augenblick später ein ohrenbetäubender Lärm - und der Reservist der britischen Armee wusste: Er war Opfer eines Bombenanschlags der irisch-republikanischen Terrortruppe IRA geworden.

Mit der Handbremse brachte er den Bus zum Stehen, „weil ich glaubte, die Beine seien weg“. Das stellte sich glücklicherweise als Irrtum heraus. Wilson organisierte die Evakuierung. Eine resolute Jugendliche wies ihn auf eine schwer verletzte Mitreisende hin. „Ich hob das Mädchen auf und legte sie auf die Rückbank. Ihre Augen verdrehten sich, ihre Atmung stoppte. Wir machten Mund-zu-Mund-Beatmung, sie kam zurück, dann übergab ich sie den Sanitätern. Aber das Weiße in ihren Augen hat mich jahrelang im Traum verfolgt.“

Wilson spricht leise, zwischendurch wischt er sich eine Träne aus den Augen – nicht zuletzt, als die Rede auf seinen Sohn James kommt, der sich ein Jahr nach dem Bombenanschlag mit mehreren Schwerverletzten 27-jährig das Leben nahm. „Er machte sich Vorwürfe, weil er den Bus nicht nach Bomben abgesucht hatte. Aber das war gar nicht seine Aufgabe.“ Psychologische Betreuung gab es nicht, weder für den Vater noch den Sohn. „Sonst wäre er vielleicht noch am Leben.“

Regelmäßig erhält der Witwer, 82, in seinem schmucken Häuschen nahe Lisnaskea Besuch von jener resoluten damals knapp 18-Jährigen, die ihren 16 Mitpassagieren „Keine Panik!“ zugerufen hatte. Inzwischen ist Arlene Foster, 48, Vorsitzende der größten unionistischen Protestantenpartei Nordirlands, der DUP – und wer ihre harte Haltung im sich zuspitzenden Brexit-Streit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU verstehen will, tut gut daran, Menschen wie Wilson zuzuhören.

Sie sind überwiegend, zumal auf dem Land, sehr konservativ und religiös, beseelt von ihrer Zugehörigkeit zu Großbritannien und wenig interessiert an der Republik Irland, die von Lisnaskea höchstens zehn Kilometer entfernt liegt. Das gilt umso mehr für die Mitglieder der DUP: Diese beschreiben sich, so ergab eine umfangreiche Befragung des Liverpooler Politikprofessors Jonathan Tonge, überwiegend als „sehr religiös“. Ein Drittel gehört der Sekte „Freie Presbyterianische Kirche“ an, die Homosexualität für Sünde hält und den Kreationismus predigt. Katholiken in der Partei gebe es „weniger als die Finger an meiner Hand“, scherzt Tonge.

Nordirlands Protestanten sehen sich in der Defensive. Bitterlich beklagen sich Aktivisten wie jene der örtlichen Opfer-Stiftung Seff, die Wilson schließlich eine Gesprächstherapie ermöglichte, über die Auswirkungen des Friedensabkommens vom Karfreitag 1998: immer neue Zugeständnisse an die IRA-Terroristen und deren Partei Sinn Féin, zu wenig Hilfe für deren Opfer. Mit Besorgnis starren viele Protestanten auf die Bevölkerungsstatistik, die den Katholiken binnen weniger Jahre die Mehrheit unter den rund 1,8 Millionen Nordiren verheißt.

Zwar sieht das Karfreitagsabkommen die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit der Republik im Süden vor, von der die sechs nordöstlichen Grafschaften der Insel 1921 abgetrennt wurden. Doch schienen sich viele Katholiken, zumal die säkular eingestellten, ganz gut eingerichtet zu haben mit den Verhältnissen. Schließlich sorgte die großzügige Subventionierung von der Nachbarinsel – 70 Prozent des nordirischen Haushalts bestreitet London – für kommoden Lebensstandard, die Durchlässigkeit der Grenze tat ein Übriges. Bis zum Brexit.

Schon John Major hatte vor den Folgen eines Brexit-Votums gewarnt

Warnend hatte im Vorfeld der Volksabstimmung 2016 ein Vater des Friedensabkommens seine Stimme erhoben. Mit der EU-Mitgliedschaft könne „unbeabsichtigt auch unsere Einheit verloren gehen“, sagte Ex-Premier John Major. Ähnlich äußerte sich die Innenministerin. Im Fall des Brexit sei es „unvorstellbar“, sagte damals Theresa May, die heutige Premierministerin, dass die offene Grenze bleiben könne wie sie ist.

Seit sie ihr Amt übernommen hat, redet May anders: Nun will sie die 300 Kilometer lange Grenze offen halten, wozu die bereits vergangenen Dezember festgeschriebene Auffanglösung für Nordirland dient: Sollte keine andere Einigung zustande kommen, verbleibt der britische Teil der grünen Insel in der Zollunion und weiten Teilen des Binnenmarktes der EU. Weil sich die DUP mit Händen und Füßen dagegen wehrt, ist May von der Vereinbarung wieder abgerückt.

Die Nordiren entschieden sich vor zwei Jahren mit 56:44 Prozent für den Verbleib in der EU, jüngste Umfragen ermittelten ein Verhältnis von 65:35. Soll nun ausgerechnet ihre Grenze die Einigung mit der EU erschweren – oder sogar unmöglich machen? Prompt steht ein weiteres Referendum am Horizont. Sollte es zum Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung kommen, sagt Sinn-Féin-Chefin Mary Lou McDonald, „muss die Verfassungsfrage gestellt werden“.

Wie Sinn Féin warben vor zwei Jahren alle nordirischen Parteien für den EU-Verbleib – alle, bis auf die DUP. Die Achtung vieler gemäßigter Katholiken haben Foster und ihre Leute dadurch verspielt.

Im knapp 100 Kilometer entfernten Newry steht Connor Patterson auf dem leeren Parkplatz der ehemaligen Zollstation. Ende der achtziger Jahre entstand das Gelände samt 200 Meter langem Abfertigungsgebäude, gesichert von Stacheldrahtzäunen und einem bewaffneten Polizeiposten. Die Lastwagenabfertigung dauerte damals durchschnittlich mehrere Stunden. Seit Eröffnung des EU-Binnenmarktes 1993 verfallen Bauten und Parkplätze. „Wir wissen genau, wie eine Zollgrenze aussieht“, sagt Patterson. „Glauben Sie, die wollen wir wiederhaben?“

Der Leiter der örtlichen Industrie- und Handelskammer ist ein Produkt der katholischen Mittelschicht: Seinen Doktortitel der Wirtschaftswissenschaft hat er in London gemacht, die Einführung des EU-Binnenmarktes erlebte er im schottischen Aberdeen. 1995 kehrte er nach Newry zurück, um beim wirtschaftlichen Wiederaufbau seiner Heimatstadt zu helfen. 2,5 Millionen Konsumenten im Umkreis von 100 Kilometern lassen sich von Newry aus erreichen, predigt er Einzelhändlern und Vertriebsfirmen.

Vor dem Friedensvertrag konnte die britische Armee im „Banditenland“ rund um Newry nur aus der Luft versorgt werden. 18 Wachtürme mit Armeestützpunkten ragten in den Himmel; auf drei Zivilisten kam ein Soldat. Friedensvertrag und EU haben in der IRA-Hochburg einen Boom ermöglicht, in dem die Identität kaum noch eine Rolle spielte. Die Arbeitslosenquote, einst bei 30 Prozent, liegt heute bei zwei Prozent. Aber jetzt, ärgert sich Patterson, treibe der Brexit einen Keil zwischen die Bevölkerungsgruppen. Im benachbarten Wahlkreis hat die gemäßigte Nationalistin Margaret Ritchie ihren Parlamentssitz verloren, profitieren konnte Sinn Féin. Warum? Patterson weiß die Antwort: „Weil die katholische Mittelschicht, Ärzte, Buchhalter, Anwälte, sich geringschätzig behandelt fühlt.“

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