Räumung des Flüchtlingslagers Idomeni: Der blinde Fleck Europas
Polizisten räumen das Flüchtlingslager im griechischen Idomeni unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dabei bleibt es überraschend ruhig.
Durch die Scheibe winkt ein Mädchen. Der erste Bus biegt um Viertel nach acht an diesem Dienstagmorgen aus Idomeni auf die Autobahn Richtung Thessaloniki, weg von der Grenze, zurück ins griechische Landesinnere. Dann folgt ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Die Gesichter sind im Vorbeifahren kaum zu erkennen. Am Straßenrand stehen einige Polizisten. Der Grenzübergang zu Mazedonien ist nur wenige hundert Meter entfernt, einfach die Straße hinunter, aber für die Insassen dieser Busse ist er unpassierbar. Über den Feldern kreist stundenlang ein Hubschrauber. Bisher, sagt die Polizei, verlaufe alles friedlich. Normal.
Ist das normal? Die Zwangsevakuierung des Flüchtlingslagers, des Elendslagers auf den Bahngleisen in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze hat begonnen. 9000 Menschen sollen weggebracht werden in andere, offizielle Lager im Land. Es ist der Anfang vom Ende eines Unorts. Ein Lager, das keines sein sollte und doch da war. Menschen, die weiter wollten nach Zentraleuropa, die monatelang vor der mazedonischen Grenze auf dem Boden lagerten. Die Zustände sind elend, Hilfsorganisationen haben sie mit dem Nötigsten versorgt, Suppe und Wasser und Brot, und Freiwillige aus vielen Ländern sind hierhin gepilgert, um irgendwie zu helfen und um dabei zu sein an diesem Kristallisationspunkt der europäischen Flüchtlingspolitik. Ai Weiwei war auch schon da.
Jetzt aber ist das Lager abgesperrt. Mit dem Sonnenaufgang hat die Polizei die Journalisten einzeln des Camps verwiesen, niemand darf mehr hinein. Die Öffentlichkeit soll nicht zusehen, wie die griechischen Behörden die Menschen in Busse verfrachten, wie sie die ramponierten Zelte mit Baggern zusammenschieben. Nur ein Team vom staatlichen griechischen Fernsehsender darf drehen. Auch die Helfer sind fast alle ausgesperrt seit Dienstagmorgen, professionelle Organisationen wie Ärzte der Welt ebenso wie die vielen Freiwilligen, die Amateure. Das ist ein Problem, weil sie in all den Monaten die Infrastruktur des Lagers getragen haben. Medizinische Versorgung, Hygiene, Wasser, Essen, eine sporadische Kinderunterhaltung. Das bricht nun fast alles zusammen.
Tankstellen als Lager
Von Ärzte ohne Grenzen sind nur noch acht Mitarbeiter im Camp erlaubt, die sich um die allerschlimmsten Notfälle kümmern können. „Das ist nicht ausreichend, die Bedingungen sind absolut nicht akzeptabel“, schimpft deshalb Kathy Athersuch von der Organisation. Sie berichtet auch von den hunderten Polizisten im Camp und sagt: „Viele Menschen haben Angst und sind verstört. Sie fragen immer wieder, was nun mit ihnen passiert, aber die Polizei gibt ihnen keine Antwort.“
Auf ihrem Weg ins Ungewisse fahren die ersten Busse vorbei an den Tankstellen am Rande der Autobahn. Auch sie sind längst zu Lagern geworden. Über den Zapfschläuchen hängt Wäsche zum Trocknen, und die Zelte stehen dicht gedrängt auf dem Asphalt. Der ist besser als Feld- und Wiesenboden, denn er wird nicht zu Schlamm, wenn es regnet. Es liegt ein beißender Gestank über allem, das kommt von den vielen kleinen Feuerchen, die zwischen den Zelten und in den Straßengräben brennen. Die vielen, vielen Kinder reiben sich die tränenden Augen, und drinnen, in einem einfachen Café, sitzt auf einem schäbigen Sessel Hassan und hustet, laut und schabend klingt es.
Hassan ist seit ein paar Wochen hier, vorher war im großen Lager hinter der Grenze, aber es sei ihm da zu gefährlich geworden für sich und seine zwei Töchter, sagt er. „Danger“, sagt er nur. Es gibt Berichte über Drogenhandel, Prostitution, Vergewaltigungen, Gewalt überhaupt im Lager. Hassan sagt dann noch ein Wort, wenn man ihn fragt, was er will: „Europe.“ Entgegnet man, dass er ja schon in Europa sei, schüttelt er nur heftig den Kopf mit den grauen Stoppelhaaren und hebt die Hände in den Raum. Das hier, sagen seine Hände, das ist doch nicht Europa. Hassans drittes Wort ist: „Merkel.“
Mindestens 7000 bleiben - vorerst
Es herrscht eine merkwürdige Stimmung hier und in den anderen Lagern. Sie haben sich eingerichtet in dieser Zwischenwelt. Eine Frau trägt Babyklamotten durch die Zeltreihen. Der Alltag frisst sich auch durch diesen persönlichen und politischen Ausnahmezustand wie Unkraut durch den Asphalt. Warum ist es an diesem Dienstag so friedlich geblieben beim Räumungsbeginn? Es gab doch all diese Szenen zuvor, Männer die mit einem Güterwaggon die Grenze durchbrechen wollten. Tränengas gegen Steinwürfe. Und so weiter.
Kathy Athersuch von Ärzte ohne Grenzen sagt, sie wisse es auch nicht so genau. „Die Menschen sind bisher ruhig.“ Sie kommen ja nicht voran wegen der geschlossenen Grenze, und freiwillig umkehren und in eines der staatlichen griechischen Lager gehen wollen sie auch nicht. Das wäre wie aufgeben. So saßen sie in der Klemme. Vor allem erschöpft seien viele, berichten jene, die in den vergangenen Tagen noch im Lager waren. Sie sind mürbe geworden in Idomeni. Nun steigen sie freiwillig in die Busse.
Gut 2000 Menschen habe man bis zum Nachmittag aus Idomeni in andere Lager geschafft, gibt die Polizei später bekannt. Bleiben also noch mindestens 7000. Drei bis zehn Tage veranschlagen die Behörden für die Räumung. NGO-Mitarbeiterin Athersuch dringt darauf, dass die Helfer in dieser Zeit wieder ins Lager dürfen, „um das Notwendigste aufrechtzuerhalten“. Die griechische Regierung geht darauf bisher nicht ein. So wie sie auch nicht sagt, ob bald wieder Journalisten in das Camp dürfen. „Schandfleck Europas“ haben die Wütenden Idomeni bisher genannt. In diesen Tagen ist es der blinde Fleck Europas.
Dieser Text erschien zuerst auf ZEIT ONLINE.