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Angela Merkel am Tag nach der Wahl.
© Gregor Fischer/dpa

Kleine Beben nach der Bundestagwahl: Der beschwerliche Weg zur Koalition

Menschen ansprechen, Menschen erreichen - davon reden jetzt alle. Bei zu vielen hat die Union das nicht mehr geschafft. Und Angela Merkel sagt, sie "kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssen".

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Reiner Haseloff ist ein nüchterner Typ, aber am Montag zeigt der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident plötzlich einen Hang zur Ironie. „Wir haben relativ die Wahl gewonnen“, sagt Haseloff frühmorgens auf dem Weg ins CDU-Präsidium im Konrad-Adenauer-Haus. Relativ ist in der Tat vieles an Angela Merkels viertem Sieg. So schwach wie nie geht die CDU-Vorsitzende aus dem Wahlsonntag hervor, in der eigenen Partei rumort es.

Relativ schwierig stellt sich der Weg zur nächsten Regierung dar. Nach der Absage der SPD müssen CDU, CSU, FDP und Grüne notgedrungen Segel auf Jamaika setzen. Der Vierer-Bund erfordert weitaus mehr Disziplin, Fantasie und Kompromissbereitschaft als klassische Zweier-Bündnisse. Beim kleinsten Partner löst schon die Aussicht kleine Beben aus. Der CSU reichen relative Siege nicht, nächstes Jahr geht es um ihre absolute Mehrheit in Bayern.

Über den Weg zu einer fernen Insel, auf dem Untiefen lauern, Strudel und Wirbelstürme.

CDU: Auf der Suche nach Ankern

Ob jemand die Chefin infrage gestellt hat? „Natürlich nicht“, sagt ein CDU-Vorstandsmitglied. Am Montag kommt die CDU-Spitze im Konrad-Adenauer-Haus zur Nach-Wahlbetrachtung zusammen. Die Stimmung ist aufgekratzt. Das starke Ergebnis der AfD macht vor allem den Ost-Verbänden zu schaffen. Aber auch Parteivize Julia Klöckner, die aus Rheinland-Pfalz das beste CDU-Landesergebnis mitbringt, äußert „große Sorge“ über den Erfolg der Rechtstruppe: „Wir müssen uns fragen lassen, ob wir die Themen richtig angesprochen haben.“

Menschen ansprechen, Menschen erreichen – die Begriffe benutzen viele. Eine Million Bürger hat die Union nicht mehr erreicht auf deren Wählerwanderweg zur AfD. Der niedersächsische Spitzenkandidat Bernd Althusmann deutet zart an, dass die CDU „vielleicht auch schon vor der Flüchtlingskrise“ Rechts Raum geräumt habe. Haseloff wird direkter: „Dass wir die Flügel, die wir verloren haben, nicht bedient haben, ist ja offensichtlich.“

Der Mann aus Sachsen-Anhalt zeigt freilich im gleichen Atemzug das Dilemma auf, in dem er und andere Kritiker stecken: „Dass die CDU überhaupt eine Regierung bilden kann, verdanken wir nur Angela Merkel.“ Klöckner sieht die Partei samt Vorsitzender in der Rolle des „Stabilitätsankers“ in der Pflicht. Und Ursula von der Leyen gibt zu bedenken, man dürfe nicht bloß auf die AfD starren, sondern müsse auch an die 1,3 Millionen Wähler denken, die die Union an die FDP verloren hat, also „in der Mitte“.

Als „sehr nüchterne Analyse“ fasst Merkel hinterher die Debatte zusammen. Dass die „Merkel-muss-weg“-Stimmung im Wahlkampf irgendetwas mit ihr zu tun hat, kann sie schlecht leugnen: „Das ist eine Polarisierung, und das ist auch mit mir verbunden.“ Aber weder mag sie die Alleinverantwortung übernehmen – „viele, viele Ursachen“ führten zur Protesthaltung – noch für sich selbst Konsequenzen ziehen. Zwar soll es nach der Niedersachsen-Wahl Mitte Oktober eine Klausur zur Wahlanalyse geben. Aber für ihren Teil nimmt die CDU-Chefin sie schon vorweg: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssen.“

Außerdem sei die Union ja jetzt in der Verantwortung, eine stabile Regierung zu bilden. „Verantwortung“ – das ist in der Machtpartei CDU allemal Merkels stärkstes Instrument gegen jeden, der versucht sein sollte, gegen sie ein Fass aufzumachen. Von den einschlägig Verdächtigen hört man denn auch nichts. Jens Spahn, aufsteigender Stern der Konservativen, entzieht sich telefonierend jeder Frage. Inhaltlich will Merkel die Koalitionssuche mit nichts vorbelasten: keine „Ausschließeritis“ – deshalb auch Gespräche mit der SPD –, keine „roten Linien“, kein Spekulieren auf Neuwahlen: „Wenn der Wähler uns einen Auftrag gibt, dann haben wir den umzusetzen.“

FDP: Bloß nicht kentern

Gut, dass Christian Lindner an diesem Dienstag Wolfgang Kubicki in den großen Saal der Bundespressekonferenz mitgebracht hat. Es hätte zu offensichtlich nach „Jamaika“-Vorfreude ausgesehen, wenn der FDP-Vorsitzende zu seiner schwarzen Krawatte auch noch ein grünes Sakko getragen hätte. So hat Kubicki das Grüne um den Hals und die beiden Spitzen der Liberalen können modetechnisch nicht in den Verdacht geraten, dass es sie mit Macht in die Regierung drängt. Auch wenn sie den Stolz auf das, was ihnen gelungen ist, nicht wirklich verbergen: Vier Jahre nachdem die Wähler die FDP aus dem Bundestag verjagt haben, sind sie wieder da. Und wie! Mit einem sehr achtbaren Ergebnis und gleich auch noch zum Regieren gebeten. „Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben“, sagt der Parteivorsitzende. Übrigens habe er in Sachen Koalitionsbildung schon Anrufe bekommen, „eine Handvoll“ sogar.

Doch damit auch genug des Stolzes. „Wir sind gesprächsbereit“, sagt Lindner, schließlich gehe es „um die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland“. Sie wollen regieren. Aber nicht um jeden Preis. Wobei über den Preis gesprochen werden kann. Schließlich wisse man, sagt Lindner, dass die Mehrheit der Deutschen nicht FDP gewählt habe, man bei insgesamt drei (in Wahrheit vier) Partnern einen gemeinsamen Weg finden müsse und einer solchen Koalition „nicht komplett vorschreiben kann“, wohin die Reise geht.

Die Formel der Liberalen für Kompromisse heißt „Trendwenden“, zehn haben sie vor einer Woche beschlossen, möglichst viele sollen sich in einem Koalitionsvertrag wiederfinden. Dazu zählen ein Einwanderungsgesetz, mehr Bildung, mehr Tempo für Digitalisierung und insbesondere die Europapolitik. „Wir sind die Partei der Mitte“, sagt Lindner. Das soll daran erinnern, dass die Liberalen schon in der schwarz-gelben Koalition Bauchschmerzen mit dem Euro-Rettungskurs hatten. Jetzt will die FDP zwar mehr Geld für Investitionen in vor allem südeuropäischen Ländern nicht generell blockieren. Lindner betont auch großes Interesse am Wohlergehen Frankreichs. Einer dauerhaften Alimentierung anderer Euro-Länder über ein gemeinsames Haushaltsbudget wollen sich die Liberalen aber verweigern.

Zur Frage, ob Griechenland noch einmal neues Geld bekommen soll, sagt die FDP hingegen nicht kategorisch Nein. Und Klimarettungsverweigerer seien sie auch nicht: „Wir stehen zum Klimavertrag von Paris“, sagt Lindner Richtung Grüne. Reden müsse man aber über den Weg zum Klimaziel. Ansonsten – erst mal kein Wort zu konkreten Forderungen oder gar Ministerämtern. „Über eine Regierungsbildung zu sprechen ist keine Spielerei“, sagt Generalsekretärin Nicola Beer, und Lindner und sein Vize Kubicki machen ernste Gesichter dazu. Vorerst wird der Parteichef auch Vorsitzender der frisch gewählten Fraktion. Ein späterer Wechsel in ein schwarz-gelb-grünes Kabinett ist damit ja nicht ausgeschlossen.

Grüne: Schiff ahoi

Cem Özdemir gibt sich staatsmännisch, als er früh zusammen mit Katrin Göring-Eckardt zur Grünen-Zentrale schlendert. Jetzt sei „nicht die Zeit für Klamauk, sondern für ernsthafte Gespräche“, sagt Özdemir, bevor er in die Beratungen der Parteispitze geht. Schließlich gehe es nicht „um irgendwas“, sondern um eine stabile Regierung für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Über Verantwortung und Ernsthaftigkeit reden die Grünen-Spitzenleute seit der Wahl viel. Noch auf dem Weg zur Fernseh-Elefantenrunde am Sonntag hat Göring-Eckardt einen Anruf von CDU-Chefin Merkel erhalten. Dass der Weg nach Jamaika schwer, vielleicht sogar unmöglich sein wird, weiß die 51-jährige Grüne. Aber zumindest will sie es versuchen.

Anders als 2013 ist die Partei diesmal vorbereitet. Über den Sommer haben sie Fachvermerke zu allen Politikfeldern schreiben lassen, um für Verhandlungen gewappnet zu sein. Noch in der Wahlnacht tagte eine Sechser-Spitzenrunde. Am Montagnachmittag setzten sich Göring-Eckardt und Özdemir auf einen Tee zusammen; sie wollen schnell das Team für Sondierungsgespräche festlegen. Und am Samstag soll ein Kleiner Parteitag in Berlin grünes Licht dafür geben. Am Mittag vor der Bundespressekonferenz kokettiert Göring-Eckardt schon mit Ambitionen: „Dass ich im Regierungsfall eine Rolle spielen will, liegt auf der Hand“, sagt sie mit leichtem Lächeln.

Bestärkt fühlen die Grünen sich dadurch, dass sie sich nicht heimlich in eine Koalition reinmogeln würden. Im Wahlkampf haben sie keine Koalition ausgeschlossen. In der Partei verweist man auf interne Befragungen von Grünen-Anhängern. Die zeigen, dass eine deutliche Mehrheit der Wähler sich lieber Grüne in einer Regierung mit den Schwarzen wünscht, als Grüne in der Opposition zur großen Koalition. Vor acht Jahren war das Verhältnis noch umgekehrt.

Wenn da nur nicht die CSU wäre. Deren herbe Verluste könnten für die Ökopartei zum ernsthaften Problem werden. „Der Wahlabend hat es nicht einfacher gemacht“, sagt der Kieler Umweltminister Robert Habeck, der am Montag zu den Parteigremien anreist. Seit Habeck im Frühjahr in Schleswig-Holstein ein Bündnis mit CDU und FDP schmiedete, ist er als Experte für Jamaika gefragt. Er rät den Parteikollegen zu stabilem Selbstbewusstsein: „Man muss nur bereit sein, tatsächlich bei sich selbst zu bleiben und jederzeit den Tisch zu verlassen. Wenn man da reingeht, um die Selbstaufgabe zu zelebrieren, dann können wir es gleich sein lassen.“

Die beiden Spitzenkandidaten verweisen deshalb vorsorglich darauf, dass die Grünen gestärkt aus der Wahl hervorgegangen seien. 463.000 Stimmen erreichten sie mehr als 2013. „Das ist ein Auftrag“, sagt Özdemir. Rote Linien wollen die Grünen nicht formulieren. Bisher belassen sie es bei Stichworten: Klima, Gerechtigkeit, Europa. Und dann ist da noch das Zehn-Punkte-Regierungsprogramm. Die Parteilinke Simone Peter erinnert daran, dass dort auch die Absage an Abschiebungen in Krisengebiete wie Afghanistan stehe. Für die CSU wäre das vermutlich gleich der erste Knackpunkt.

CSU: Rette sie, wer kann

Aus München weht am Montag ein Eishauch von Kreuth herüber nach Berlin. „Seehofer stellt Fraktionsgemeinschaft mit der CDU zur Debatte“, melden Nachrichtenagenturen mit Eil-Klingel aus der Sitzung des CSU-Vorstands. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dann aber schnell: Der CSU-Vorsitzende will keineswegs das Bündnis mit der Schwesterpartei beenden. Horst Seehofer will nur sicherstellen, dass kein anderer auf die Idee kommt. Er lässt den Parteivorstand abstimmen – mit erwartbarem Ergebnis: Ein einstimmiges Nein zum Alleingang.

Seehofer steht seit Sonntag unter massivem Druck. Merkels CDU hat bundesweit 7,4 Prozent verloren im Vergleich zu 2013, Seehofers CSU 10,5 Prozent. Zu allem Überfluss ist die AfD in Bayern mit 12,4 Prozent auch noch stärker als irgendwo sonst im Westen. Für die Landtagswahl 2018 lässt das Böses ahnen.

Für Seehofers Zukunft auch. Noch ist es nur sein alter Widersacher und Vorgänger Erwin Huber, der den Parteichef offen angeht – seine „Schaukelpolitik“ in der Flüchtlingskrise habe die Populisten erst stark gemacht. Aber Seehofer reagiert sofort und scharf. Er übernehme die Verantwortung, aber denke nicht an Rücktritt: „Wenn jemand das anders will, dann soll er es sagen.“

In der Vorstandssitzung meldet sich keiner. Der Versuch, einen Showdown zu erzwingen, hätte in dem Gremium auch keine Chance. Aber der Vorsitzende muss sich im November beim Parteitag in Nürnberg einer Wiederwahl stellen. Und es gibt in der CSU durchaus Leute, die die alles andere als gesichert sehen. Sie spekulieren darauf, dass Seehofer in „Jamaika“-Verhandlungen gegen die Grünen keinen scharfen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik durchbekommt. Dann blühe ihm in Nürnberg ein Debakel.
Der alte Hase Seehofer indessen schlägt schon Haken, um dieser Falle zu entkommen. Er hat seinen Vorstand als Vorbedingung für „Jamaika“-Gespräche beschließen lassen, dass CDU und CSU eine gemeinsame Position festlegen. Merkel sichert ihm die prinzipiell zu: „Wir werden gemeinsam agieren.“ Was aus der Forderung nach einer „Obergrenze“ für Flüchtlinge wird, blieb aber unklar.

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