Nach dem Anschlag auf Schule in Peschawar: Der 11. September Pakistans
Der Anschlag auf eine Schule in Peschawar mit 141 Toten lässt Pakistan zusammenrücken und enger mit dem Nachbarland Afghanistan kooperieren – im Kampf gegen die Taliban.
Die Trauerschreie verzweifelter Mütter und Väter hallen durch die Stadt, als Peschawar am Tag nach dem Massaker seine getöteten Kinder zu Grabe trägt. So weit das Auge reicht, füllen Trauernde die Straßen. Die Särge sind mit roten Blüten geschmückt. „Je kleiner der Sarg, desto schwerer fällt es, ihn zu tragen“, sagt ein Mann. 141 Menschen, darunter 132 Kinder, hatten Selbstmordattentäter hier am Vortag ermordet, die meisten durch Kopfschüsse. Zur Tat bekannte sich der pakistanische Talibanverband Tehrik-i-Taliban-Pakistan (TTP), dessen spiritueller Führer Mullah Fazlullah auch der Anschlag auf die damals 15-jährige Kinderaktivistin Malala Yousafzai zur Last gelegt wird.
Der 16. Dezember 2014 könnte einen Wendepunkt in Pakistans langem und halbherzigem Kampf gegen den Terror bedeuten, sozusagen das 9/11 Pakistans. Am Tag nach einem der größten Terroranschläge in der Geschichte des Landes stellt sich die Frage, ob diese Tat als Zeichen der Schwäche oder Stärke der Taliban gedeutet werden kann. Genau in dieser Frage sind sich Beobachter uneins.
Die neue Offensive „gegen die pakistanische Gesellschaft“ interpretiert Philipp Kauppert, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad, durchaus als perfiden Akt von geschwächten Terroristen. Im Rückzugsgebiet der Taliban in Waziristan im Norden des Landes greift das pakistanische Militär mit Hilfe der USA Stellungen der Terroristen an, zum Teil mit unbemannten Drohnen, die auch viele Zivilisten töten. Zwar konnte seit Monaten keine militärische Entscheidung herbeigeführt werden, doch die Taliban dort seien zumindest geschwächt. Die Fokussierung auf Zivilisten, vor allem auf unschuldige Schüler zeuge nicht von Stärke, sondern von der Unfähigkeit, an der Front in den Bergen den Attacken stand zu halten, sagte Kauppert.
Sind die Taliban in Pakistan stark oder schwach?
Schulen gehören aber schon seit Jahren zu den Anschlagszielen der Taliban in Pakistan. Der Kampf der Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai für das Recht auf Bildung ist da nur der berühmteste Fall. „Einen der größten Terroranschläge in der pakistanischen Geschichte kann nicht als Schwäche der pakistanischen Taliban gedeutet werden“, analysiert deswegen Christian Wagner, Pakistan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Die Rekrutierung von sechs Selbstmordattentätern, die logistische Leistung, die hinter diesem Anschlag stecke, sei ein Anhaltspunkt der weiterhin starken Organisationskraft einiger Gruppierungen innerhalb der Taliban. Die Gruppe um Taliban-Anführer Fazlullah soll Afghanistan als Zuflucht benutzen. Noch am Mittwoch eilte Pakistans Armeechef Raheel Scharif nach Kabul, um Afghanistan aufzufordern, die Verstecke auszuheben.
Todesstrafe für Taliban-Kämpfer
Das Massaker könnte die beiden Länder im Kampf gegen den Terror zusammenführen. Bei einem Treffen in Islamabad verabredete der pakistanische Präsident Nawaz Scharif mit Afghanistans Präsidenten Ashraf Ghani eine engere Zusammenarbeit. „Wir sind entschlossen, unsere Region von Terrorismus zu befreien. Wir haben entschieden, dass wir niemanden erlauben werden, unseren Boden zu missbrauchen, um das andere Land zu attackieren.“ Scharif hob zudem für Terroristen das Moratorium bei der Todesstrafe auf – was allerdings Selbstmordattentäter wenig beeindrucken dürfte.
Diese neue Dimension der Gewalt ist auch ein Resultat der Konflikte innerhalb der pakistanischen Taliban. Sie agieren, anders als der „Islamische Staat“ beispielsweise, in ihren lokalen Machtbereichen. Zwischen 30 und 40 Gruppen in Pakistan stehen der islamistisch-nationalistischen Ideologie nahe, viele von ihnen bekriegen sich gegenseitig. Vor rund einem Monat wollte eine vor kurzem abgespaltene Gruppe mit einem Anschlag bei Lahore ihre Stärke demonstrieren. Weil sich die Gruppen innerhalb der Taliban in ihrer Brutalität überbieten wollen, kommen so regelmäßig Dutzende Menschen in Pakistan ums Leben. Die pakistanische Bevölkerung hegte deswegen noch nie große Sympathien für die Taliban.
Gute Taliban/ Schlechte Taliban
Angesichts der Blutrünstigkeit, mit der viele Schüler regelrecht abgeschlachtet worden sind, gibt sich die pakistanische Gesellschaft entschlossen, gegen die Taliban vorzugehen. „Diese Brutalität löst Wut und Trauer aus“, sagt SWP-Experte Wagner. Auch konservative Gruppen innerhalb der pakistanischen Gesellschaft, die lange für einen Dialog mit den Taliban geworben hätten, würden sich nun abwenden. „Teufel schlachten unsere kleinen Engel ab“, titelt die Zeitung „The Nation“ am Mittwoch. „Die Regierung und das Militär üben nach innen nun mehr denn je einen Schulterschluss gegen den Terror“, beobachtet Wagner.
Schon während der Kolonialzeit konkurrierten verschiedene islamistische und nationalistische Gruppen in der Region um Souveränität. Im Kalten Krieg galten einige Talibangruppen als Verbündete, auf beiden Seiten. In den achtziger Jahren rüstete sie das pakistanische Militär aus, um Einfluss im Nachbarland Afghanistan zu erlangen. Diese Aufbauhilfe und die Einteilung in „gute Taliban und schlechte Taliban“ rächt sich nun. Da sind sich die Pakistan- Beobachter einig.