Der Westen und das Erstarken totalitärer Regime: Dem Club der Bösen die Stirn bieten
Die EU muss wehrhafter werden, um den Autokraten etwas entgegenzusetzen. Das Blockdenken ist zurück. Ein Gastbeitrag.
Günther H. Oettinger ist Präsident von United Europe e.V. und Geschäftsführer der Unternehmensberatung Oettinger Consulting GmbH in Hamburg.
"Heute Nacht sind wir das glücklichste Volk der Welt." Das sagte Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper nach dem Mauerfall am 9. November 1989. Dieses Datum steht, zusammen mit der Wiedervereinigung ein Jahr später, in Deutschland und weltweit für eine Zeitenwende: das Ende des Kalten Kriegs zwischen Ost und West.
Das „Reich des Bösen“, wie der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1983 die Sowjetunion genannt hat, zerfiel. Viele Staaten des früheren Warschauer Pakts suchten Schutz in der Nato und der Europäischen Union – für sie ein Garant des Friedens und Wohlstands. Inzwischen hat das Böse wieder einen Namen: Wladimir Putin.
Diese Zeitenwende ist eine Rolle rückwärts
Am 24. Februar begann Russlands Präsident seinen brutalen, völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. Wieder erlebt die Welt eine Zeitenwende, diesmal eine dramatische Rolle rückwärts.
Die geopolitische Konstellation ist geprägt vom Kampf der Diktatoren und Autokraten gegen das westliche Modell von Demokratie und Freiheit. Zu besichtigen ist eine Gegenrevolution totalitärer Regime, die in westlichen Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und freier Meinungsäußerung eine Bedrohung sehen.
Dies ist ein Beitrag der Reihe Global Challenges, einer Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Neben Günther H. Oettinger sind regelmäßige Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.
Das Böse hat sogar einen eigenen Club: Neben Russland versammeln sich darin jene Staaten, die in der UN-Vollversammlung Anfang März gegen eine Verurteilung des Angriffskriegs stimmten: Belarus, Nordkorea, Syrien und Eritrea. Westliche Medien bilanzierten erleichtert, nur diese vier Schurkenstaaten unterstützten Russlands Aggression. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
35 Staaten enthielten sich in der Abstimmung der Stimme, darunter 17 afrikanische Länder, fast alle über das Infrastrukturprojekt „Neue Seidenstraße“ mit China wirtschaftlich eng verbunden. Auch die zwei Demokratien Indien und Südafrika fanden sich, ebenso wie China, nicht zu einer Verurteilung des Angriffskriegs bereit. Insgesamt repräsentieren diese Länder die Hälfte der Weltbevölkerung.
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Bezeichnend ist auch das jüngste Votum über eine Resolution in der UN-Vollversammlung, bei dem es um Russlands Ausschluss aus dem Menschenrechtsrat ging. Die Resolution wurde zwar angenommen, allerdings gegen den Widerstand von 24 Ländern, darunter China, Iran und Vietnam. Außerdem gab es 58 Enthaltungen, zum Beispiel von so wichtigen Staaten wie Indien, Brasilien, Südafrika, Mexiko, Indonesien, Malaysia und Thailand.
Auch China ist eine sicherheitspolitische Bedrohung
Über Putins Krieg in Europa sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass auch von China eine zunehmende sicherheitspolitische Herausforderung für Europa und den Westen ausgeht. Die strategische Partnerschaft zwischen China und Russland, von den Präsidenten Xi Jinping und Putin kurz vor dem russischen Einfall in die Ukraine bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking öffentlichkeitswirksam zelebriert, beinhaltet nicht nur Moskaus Anspruch auf die Ukraine.
Sie beinhaltet auch Pekings Anspruch auf die „abtrünnige Provinz“ Taiwan, der in der „Gemeinsamen Erklärung“ vom 4. Februar 2022 von Moskau bestätigt wurde. Putin lehnt jede Form der Unabhängigkeit Taiwans ab und leistet damit einer möglichen Aggression Chinas Vorschub. Gemeinsam verwerfen Moskau und Peking westliche Werte. Xi betont ja gerne, einige Länder hätten an westlichen Werten „furchtbaren Schaden genommen“. Was er damit meint, sind beispielsweise Minderheitenrechte und Pressefreiheit.
Wie „Schadensbehebung“ à la Xi geht, ist in Hongkong oder den Umerziehungslagern für Uiguren, Kasachen und anderen Ethnien in der chinesischen Provinz Xinjiang zu besichtigen. Es gilt zu beobachten, ob China ein Schutzpatron des Clubs des Bösen wird. Ein Lackmustest dafür ist heute die Ukraine. Und morgen Taiwan?
Die Europäische Union muss geopolitischer agieren
Angesichts dieser Konstellation ist eine geopolitisch agierende Europäische Union das Gebot der Stunde. Wir brauchen eine gemeinsame Armee. Wichtig wäre es, in diese Armee nukleare Möglichkeiten einzubauen, also Frankreichs Force de Frappe. Strategien für einen künftigen Cyberkrieg sollten ebenfalls europäisch entwickelt werden, unter Rückgriff auf die eigenen Spitzentechnologien.
Um dem Ziel der „Weltpolitikfähigkeit“ näher zu kommen, muss sich die EU in Fragen der Außenpolitik endlich vom Prinzip der Einstimmigkeit verabschieden und Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit treffen können. So käme auch ein europäischer Außenminister in Reichweite.
Die Nato hat sich bislang bei der Unterstützung der Ukraine gegen Putins Angriffskrieg als Bündnis bewährt - nicht zuletzt dank US-Präsident Joe Biden. Allerdings: Bei der nächsten Präsidentschaftswahl ist ein Comeback von Donald Trump oder einer seiner national-populistischen Epigonen nicht auszuschließen. Für die USA könnte die Nato dann schnell wieder „obsolet“ werden. Auch deshalb müssen Europa und insbesondere die EU eigene militärische Stärke entwickeln.
Das Blockdenken ist zurück
Die Befähigung zur Wehrhaftigkeit setzt funktionstüchtige Armeen voraus. Schon nach der Wiedervereinigung schraubte die Bundesrepublik als erstes die Verteidigungsausgaben zurück - von fast drei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu Zeiten des Kalten Krieges auf unter zwei Prozent im Haushalt für das Jahr 1992. Damals war übrigens Helmut Kohl Kanzler. Zuletzt dümpelte der Wehretat jahrelang unter 1,5 Prozent des BIP.
Es herrschte ein naiver Glaube an das Gute, von „Friedensdividende“ war die Rede. Deshalb ist die Ankündigung von Kanzler Olaf Scholz, nun für Verteidigung jährlich zwei Prozent des BIP und zusätzlich 100 Milliarden Euro aus einem „Sondervermögen“ investieren zu wollen, richtungsweisend und überfällig.
Die scheinbare Überwindung des Blockdenkens ist seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine endgültig Vergangenheit. Keine Frage: Jahrzehntelang haben Deutschland und die EU von ihrer geopolitischen Naivität wirtschaftlich profitiert. Billiges Gas aus Russland hat nicht nur geholfen, Deutschlands Industrie zum Export-Weltmeister zu machen.
Die Gewinne haben auch zum Ausbau des Sozialstaates beigetragen. Das muss man mitdenken, auch wenn der Ruf nach einem Gas-Embargo gegen das Land des Kriegsverbrechers immer lauter wird. Natürlich schmerzt jeder Euro, den man an Putins Regime zahlt. Aber muss man im Sinne einer „moralischen Läuterung“ wirklich eine tiefe Rezession riskieren? „Wollen wir sehenden Auges unsere ganze Volkswirtschaft zerstören?“, fragt BASF-Chef Martin Brudermüller.
Unterdessen wartet China offenbar erst einmal ab, wie der Krieg in der Ukraine für Putin und die russische Wirtschaft ausgeht. Wir Europäer müssen diese Zeit nutzen, um sowohl wirtschaftlich als auch militärisch wehrhafter zu werden. Nur so können wir dem Club des Bösen die Stirn bieten.
Günther H. Oettinger