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Wovor haben die Deutschen Angst? Seit 27 Jahren geht eine Langzeitstudie dieser Frage nach.
© dpa

Angstforscher Borwin Bandelow: "Das Vertrauen in den Staat ist erschüttert"

Der Psychiater Borwin Bandelow erklärt im Interview, warum sich die Deutschen mehr vor Zuwanderung als vor Terrorismus und Herzinfarkten fürchten.

Donald Trump, Zuwanderung, Überforderung des Staats - das sind die größten Ängste der Deutschen in diesem Jahr. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie "Die Ängste der Deutschen 2018", die an diesem Donnerstag in Berlin vorgestellt wird. Seit 27 Jahren untersuchen Wissenschaftler im Auftrag der R&V-Versicherung, wovor die Deutschen am meisten Angst haben. Im vergangenen Jahr standen Terrorismus und politischer Extremismus ganz oben in der Liste der Top-Angstmacher. In diesem Jahr fürchten sich die Menschen davor weniger, dafür nimmt die Angst vor Migration deutlich zu.

Herr Professor Bandelow, sind die Deutschen ängstlicher als andere Nationen?

Nein. Grundsätzlich sind Menschen im Norden ängstlicher als im Süden. In Norwegen sind die Menschen zum Beispiel viel ängstlicher als die Menschen am Äquator. Nach meiner Theorie konnten die Ängstlichen früher in nördlichen Gefilden besser überleben, weil die Angst sie dazu angetrieben hat, sich besser auf den Winter vorzubereiten als es die Unbekümmerten getan haben.

Angst ist also etwas Gutes?

Ja, vor vielen tausend Jahren wären wir ohne den Überlebensvorteil Angst ausgestorben.

Sind denn auch die Norddeutschen ängstlicher als die Bayern oder Schwaben?

Dazu gibt es keine Untersuchungen. Aber vom Gefühl her ist das richtig. Die Ostfriesen sind wohl eher Bedenkenträger als Menschen, die in Süd-Baden leben. 

Sie sprechen von Bedenken. Wo ist der Unterschied zur Angst?

Angst ist ein Gefühl, das eine körperliche Reaktion auslöst: Schwitzen, Herzrasen, Schwindel – wie in einer Panikattacke. Wer aber morgens in der Zeitung von einem Terroranschlag oder einem Messerangriff liest, der kriegt keine Panikattacke, sondern fängt an, sich Sorgen zu machen. Man runzelt dann die Stirn, bekommt aber deswegen kein Herzrasen. 

Muss man mit Ängsten anders umgehen als mit Sorgen und Bedenken?

Natürlich. Die beiden Dinge muss man trennen. Angststörungen lassen sich mit Psychotherapien und Medikamenten behandeln. Angstpatienten haben meist irreale Ängste, etwa vor engen Fahrstühlen. Oder sie haben soziale Ängste, sich in einer bestimmten Situation zu blamieren. Von solchen Ängsten sind rund 15 Prozent der Bevölkerung betroffen. Vor Terrorismus, Kriminalität und Naturkatastrophen fürchten sich Angstpatienten aber nicht mehr als die anderen Menschen, die gewöhnlichen Bedenkenträger.

Lassen sich Bedenken auch behandeln?

Das ist natürlich nicht so leicht. Sie können ja nicht einfach Beruhigungsmittel ins Trinkwasser kippen.

Viele Menschen fürchten eine Überforderung von Politik und Behörden durch Zuwanderung. Verlieren die Deutschen das Vertrauen in den Staat?

Das muss man leider so sagen. In der Tat haben die Behörden, etwa im Fall von Anis Amri oder beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, auf ganzer Linie versagt. Für viele ist das Vertrauen in den Staat erschüttert. Das löst Ängste aus. 

Was könnte die Politik dagegen tun?

Politiker können schon beruhigend auf die Bevölkerung einwirken, indem sie etwa erklären, dass Terroranschläge zwar tragisch, aber nicht besonders häufig sind. Allerdings müssen die Politiker auch einen Spagat machen. Es gibt in der Bevölkerung zum Beispiel die subjektiven Ängste vor zu viel Zuwanderung. Die haben jüngst sogar zugenommen. Das müssen Politiker ernst nehmen und können nicht einfach sagen: Es wird schon gut gehen mit den Ausländern. Wer das sagt, braucht sich gar nicht erst zur Wahl stellen. Zugleich muss ein Politiker aber bei den Fakten bleiben, weil er mit Populismus die Ängste sonst weiter schürt.

Borwin Bandelow ist Professor für Psychiatrie an der Universität Göttingen und Vorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung.
Borwin Bandelow ist Professor für Psychiatrie an der Universität Göttingen und Vorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung.
© Borwin Bandelow

Der „Flüchtlingssommer 2015“ liegt drei Jahre zurück. Warum nehmen die Ängste im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Zuwanderung noch immer zu?

Das Thema bleibt aktuell. Die Menschen haben vor neuen, unbekannten Dingen mehr Angst als vor bekannten Gefahren. Ein Beispiel ist der Ausbruch der Vogelgrippe in Asien vor einiger Zeit. Da starben in Indonesien fünf Leute. Hier gab es nicht einen Todesfall, trotzdem war das ganze Land in heller Aufruhr. Es war eine neue Gefahr, die auch noch als unbeherrschbar galt. So sehen viele auch das Thema Zuwanderung, als neu und unkontrollierbar. Auch LKW-Anschläge wie in Nizza und Berlin werden als unbeherrschbar wahrgenommen, ebenso wie Messerattacken, wie sie von Flüchtlingen in jüngster Zeit begangen wurden. Es gibt einfach zu viele Lastwagen und ein Küchenmesser hat jeder im Schrank.

Es geht bei diesen Ängsten also um das Gefühl der Kontrolle?

Ja, wir haben keine Kontrolle darüber, ob solche tragischen Ereignisse stattfinden. Aber wichtig ist eben auch, dass wir die Gefahr als neu wahrnehmen. Wie hoch das Risiko eines Messerangriffs statistisch ist, spielt keine Rolle. Wir machen uns kaum Gedanken über Herz-Kreislauf-Erkrankungen, obwohl 43 Prozent von uns, also Millionen von Menschen, in den kommenden Jahren an so einer Erkrankung sterben werden – und nicht durch ein Messer.

Der Herzinfarkt macht also keine Angst mehr, weil es ihn immer schon gibt?

Genau. Auch die 9000 tödlichen Freizeitunfälle jedes Jahr haben die Menschen gewissermaßen eingepreist und denken nicht darüber nach. Weil sie die Verhältnisse nicht richtig einschätzen, kommt es häufig zu übermäßiger Angst vor relativ geringen Risiken wie einem Terroranschlag. Außerdem trifft einen der Herzinfarkt mit 70, einen Messerangriff oder ein Bombenattentat kann einen auch mit Mitte 20 treffen.

Im Vergleich zum Vorjahr ist die Angst vor Terrorismus allerdings stark gesunken.

Ja, im vergangenen Jahr war Terrorismus noch die größte Angst der Deutschen. Damals waren die Anschläge von Paris noch frisch in der Erinnerung, die haben unser Denken massiv bestimmt. Jetzt gab es allerdings eine Zeit lang keine großen Attentate mehr in Europa. Die Leute glauben, die Gefahr sei geringer geworden – obwohl sich an der Sicherheitslage nichts geändert hat.

Werden die Deutschen denn immer ängstlicher?

Insgesamt nicht. Die Angst der Menschen bleibt vielmehr über Jahrtausende gleich, es gibt immer ein gewisses Angstlevel, das über Generationen vererbt wird. Trotzdem werde ich jedes Jahr aufs Neue gefragt: Hat die Angst zugenommen? Seit 30 Jahren die gleiche Frage – ich glaube, die gehört zur Angst der Deutschen irgendwie dazu.

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