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AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz im Ost-Wahlkampf.
© dpa

Historiker kritisiert Ostwahlkampf der AfD: „Das verfängt bei denen, die in der DDR Mitläufer waren“

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über die Vereinnahmung der Revolution von 1989 durch die AfD - aber auch durch die Linke.

Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker und Buchautor. Er ging bei den Protesten 1989 mit auf die Straße. Kommende Woche erscheint sein Buch: „Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“.

Herr Kowalczuk, gemeinsam mit mehr als 100 früheren DDR-Bürgerrechtlern und Oppositionellen werfen Sie der AfD vor, die Revolution von 1989 zu vereinnahmen. Was macht Sie so wütend?
Wir sind 1989 für genau die Grundwerte auf die Straße gegangen, die diese Partei jetzt ganz massiv untergräbt. Es ist empörend, dass die AfD im Wahlkampf im Osten versucht, mit Slogans wie „Vollende die Wende“ diese Revolution zu missbrauchen. Sie präsentiert sich als Erbin der Proteste von damals und tut so, als herrschten heute in Deutschland ähnliche Verhältnisse wie in der DDR, einer kommunistischen Diktatur. Es macht uns wütend, dass das gleichgesetzt wird. Niemand kommt hier ins Zuchthaus dafür, seine eigene Meinung öffentlich zu vertreten.

Trotzdem haben offenbar einige das Gefühl, man könne nicht alles sagen in Deutschland – die will die AfD ja erreichen mit ihrer Kampagne.
Da würde mich wirklich mal interessieren, welche konkreten Sanktionserfahrung diese Menschen gemacht haben. Ich glaube, es geht eher um den sozialen Bereich. Dass zum Beispiel ein bekennender AfD-Mann im Freundeskreis oder im Stammlokal geschnitten wird. Das ist nicht schön, aber das hat nichts mit dem staatlichen System zu tun, in dem wir leben. Zu behaupten, in Deutschland herrsche keine Meinungsfreiheit, ist schlicht Demagogie.

Führende AfD-Politiker im Osten stammen aus dem Westen, wie Björn Höcke oder Andreas Kalbitz. Sie haben die DDR nicht erlebt. Welche Rolle spielt das?
Im ersten Augenblick denkt man ja, man habe sich verhört, wenn solche Leute Sätze sagen, die so klingen, als seien sie 89 mit auf die Straße gegangen. Das ist ärgerlich für alle, die 89 wirklich bei den Protesten dabei waren, aber trotzdem noch harmlos im Gegensatz zu dem, was diese Politiker sonst im Schilde führen.

Wie kann denn diese „Wende 2.0“-Rhetorik der AfD überhaupt verfangen bei den Menschen im Osten, die ja genau wissen, wie es war in der DDR?
Das verfängt eben einerseits bei denjenigen, die die DDR nicht miterlebt haben und erst nach der Revolution in den Osten gezogen sind. Und andererseits bei denen, die in der DDR Mitläufer waren. Denn die Revolution wurde ja von einer Minderheit gemacht, der Osten bestand vor allem aus Mitläufern. Ich meine das nicht herabwürdigend. In jeder Diktatur muss man irgendwie durchkommen, überleben.  Aber die Menschen, die sich gegen das System gestellt haben, die in der DDR zu leiden hatten, im Gefängnis gesessen haben, die Diktatur als Diktatur wahrgenommen haben – die stehen zum größten Teil nicht hinter den Parolen der AfD.

Ilko-Sascha Kowalczuk arbeitet als Projektleiter bei der Stasi-Unterlagen-Behörde.
Ilko-Sascha Kowalczuk arbeitet als Projektleiter bei der Stasi-Unterlagen-Behörde.
© dpa / Arno Burgi

Welche Wendeerfahrungen tragen denn dazu bei, dass in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zwischen 20 und 25 Prozent der Menschen AfD wählen wollen?
Viele sind damals ohne ihr Zutun in ein neues System gespült worden. Sie hatten einen Hochglanzkatalog erwartet und haben Arbeitslosigkeit bekommen. Ihnen wurden die blühenden Landschaften versprochen und dass es niemandem schlechter gehen würde. Und dann kommen sie in einer Realität an, die viel härter war, als sie der Westen kannte. Sie gingen davon aus, dass ein neuer starker Staat da ist, aber auch diese Erwartung wurde nicht erfüllt. Menschen, die im Osten AfD wählen, setzen auf einen starken Staat, der alles regelt.

Sie sind selbst in der DDR in einem staatsnahen Elternhaus aufgewachsen, haben sich mit zwölf Jahren bei der NVA verpflichtet. Als sie mit 14 Jahren sagten: Ich will das nicht - da wurde ihnen der Weg zum Abitur und zum Studium versperrt. Was hat das bei Ihnen ausgelöst?
Ich hatte einen wahnsinnigen Hass auf viele Gruppen, zum Beispiel auf Studenten – völlig ungerechtfertigt natürlich. Weil die studieren durften und ich nicht, habe ich sie für angepasste Arschlöcher gehalten. Das war unfair und es dauerte eine Weile, bis ich nach 1989 diesen „moralischen Überschuss“ gezäumt bekam. Die Revolution war dann für mich eine unglaubliche Befreiung, ich konnte diese angestaute Energie endlich einsetzen und tun, was ich schon immer tun wollte. Dieser Fixpunkt 89, dieses unglaubliche Glücksgefühl gewonnen zu haben, das ist bis heute ein Band, das viele Bürgerrechtler von damals zusammenhält.

Sie kritisieren, dass auch die Linke versucht, die friedliche Revolution für sich zu vereinnahmen. Was genau meinen Sie damit?
Die Linke ist die Rechtsnachfolgerin der SED. Die Linke und allen voran ihre Ikone Gregor Gysi suggerieren, dass die Partei 1989 dafür gesorgt habe, dass die Revolution friedlich verlaufen sei. Dass sie dafür gesorgt habe, dass die Mauer gefallen ist. Das ist beides nicht richtig. Mich ärgert außerdem sehr, dass Gregor Gysi als letzter SED-Vorsitzender ausgerechnet am 9. Oktober dieses Jahres in Leipzig auftritt. Also dem Tag, als vor 30 Jahren über 70.000 Menschen aus der ganzen DDR in Leipzig gegen die SED-Herrschaft demonstrierten. Dem Tag, der den Mauerdurchbruch am 9. November möglich machte. Angesichts der Verbrechen und historischen Verantwortung der SED ist dieser Auftritt von Gysi einfach zynisch.

Warum wird jetzt, 30 Jahre nach der Wende versucht, die friedliche Revolution zu instrumentalisieren?
Einfach weil das sehr griffig ist. Populisten brauchen kurze, auf den Punkt gebrachte Begriffe. Wenn man einem Ostler sagt: Alles scheiße, so wie früher, Merkel ist schlimmer als Honecker – dann versteht der sofort, was gemeint ist. Es gibt dann eine Dynamik, in der man sich gegenseitig in seinen negativen Gefühlen bestärkt. Es ist falsch und nicht stimmig, aber sehr effektiv und eingängig.

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