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Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu Hause wird selbst für Wohlhabendere kaum noch zu finanzieren sein.
© imago/Westend61

Ein Schock für viele Familien: Das Pflege-Urteil stellt unser System auf den Kopf

Mindestlohn auch für ausländische Pflegekräfte - damit wird die Alternative zum Heim unbezahlbar. Warum das Urteil dennoch richtig ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Rainer Woratschka

Die Gewerkschafter und Sprecher der Berufsverbände tun sich leicht. Qualitativ hochwertige Pflege habe nun mal ihren Preis, sagen sie. Und für alle, die zuhause gepflegt werden wollten, stünden ambulante Dienste mit gut ausgebildeten und sozialversicherungspflichtig beschäftigten Kräften bereit, bei denen man sich auf das Einhalten rechtlicher Vorgaben verlassen könne.

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Wenn es so einfach wäre, gäbe es beides nicht. Weder Hunderttausende von Osteuropäerinnen, die in deutschen Privathaushalten alte, pflegebedürftige Menschen betreuen, noch die Aufregung um ein gerade ergangenes Grundsatzurteil dazu.

Denn dieses beinhaltet eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit: Auch ausländische Pflegekräfte haben hierzulande ein Recht auf Mindestlohn, stellte das Bundessozialgericht klar. Und das gilt, natürlich, ebenso für Bereitschaftszeiten. In der Realität, über die hier nun auch mal gesprochen muss, ist das Urteil jedoch für viele Familien ein Schock.

Die Alternative zum Heim wird damit unbezahlbar

Denn damit wird eine weit verbreitete und politisch gern geduldete Alternative zur Betreuung im Heim – die 24-Stunden-Pflege durch dafür ins Land geholte Frauen – unbezahlbar.

Das Urteil zeigt die Kostendimension, um die es dabei geht. Die Klägerin, eine Frau aus Bulgarien, hatte in Berlin für sieben Monate Betreuung rund um die Uhr grade mal 6680 Euro erhalten. Das Gericht sprach ihr eine Nachzahlung von mehr als 38000 Euro zu, fordert also eine mehr als siebenmal so hohe Bezahlung. Drunter, so die Richter, geht es nicht in Deutschland.

An dem Urteil gibt es nichts zu kritisieren. Traurig, dass es überhaupt notwendig war. Der Richterspruch belegt ja das jahrelange Wegsehen der Politik ebenso wie den geradezu obszönen Grad an Ausbeutung von Frauen, die zuhause oft genug noch ihre eigenen Familien und Kinder sitzen haben und sie monatelang sich selber überlassen müssen.

Und das Lohndumping ist umso beschämender, als es sich bei den Nutznießern meist um finanziell besser Gestellte handelt, die zumindest über Häuser mit Gästezimmer oder Einliegerwohnung verfügen, um die Helferinnen einquartieren zu können.

Das Modell hat den Pflegekassen Milliardensummen erspart

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass dieses Modell unseren Pflegekassen und somit auch uns Beitragszahlern jahrelang Milliardensummen erspart hat. Und dass die meisten derer, die es in Anspruch nehmen, dies mit Bauchschmerz und schlechtem Gewissen tun.

Sie wissen sich oft nicht anders zu helfen. Pflegeheime haben sich zu Sterbeheimen gewandelt, in die keiner vor der Zeit möchte. Fast alle wünschen sich, längstmöglich in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Die Kinder leben oft weit entfernt, können sich nicht kümmern. Und bei ambulanten Diensten sind die Wartelisten lang. Man kann froh sein, jemanden zu finden, der zweimal am Tag vorbeischaut. Schließlich werden Pflegekräfte überall händeringend gesucht.

Der Schwarzmarkt mit osteuropäischen Pflegekräften könnte wieder aufblühen

Das wird jetzt noch heftiger werden. Der Kampf um Fachpersonal, ambulante Betreuung und auch um Heimplätze wird sich durch das unbequeme Urteil drastisch verschärfen. Schätzungen zufolge werden hierzulande bis zu 600.000 Menschen von Frauen aus Mittel- und Osteuropa versorgt.

Selbst wenn davon aus Kostengründen jetzt nur ein Teil wegfällt, droht der häuslichen Pflege der Kollaps. Gut möglich auch, dass aus halblegalen Beschäftigungsverhältnissen wieder ein echter Schwarzmarkt wird, mit noch unwürdigeren Arbeitsbedingungen. Und dass hinfällige Menschen zuhause schlicht ganz ohne Hilfe bleiben.

Doch wie reagieren? Aufgrund der nötigen und politisch gewollten Aufwertung des Pflegeberufs ist in nächster Zeit ohnehin ein gewaltiger Kostenschub zu erwarten. Wo sollen da noch Mittel für weit mehr Pflegegeld oder derart viele zusätzliche Heimplätze herkommen?

Ein Gutes aber hat das Urteil auch. Die Verantwortlichen können sich nicht länger wegducken. Sie müssen nun endlich mit aller Kraft und ohne ideologische Scheuklappen nach gesamtgesellschaftlichen Lösungen für die alternde Bevölkerung suchen.

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