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EU-Fahne vor dem Europaparlament in Straßburg
© dpa/Jean-Francois Badias/AP

Wach, selbstbewusst und konfliktfreudig: Das Parlament hält die EU zusammen

Dem Europaparlament steht mit dem Brexit ein herber Verlust bevor. Doch das Ansehen und die Macht des Hauses sind nicht zu unterschätzen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Nach dem Prinzip, dass alles, was theoretisch möglich ist, auch praktisch eintreten kann, darf man selbst dies nicht ausschließen: dass die Briten am 23. Mai ihre 73 Abgeordneten für das Europäische Parlament wählen. Dass sie es zähneknirschend tun müssen, weil sie das mit dem Brexit einfach nicht hinkriegen.

Käme es so, gäbe es erhebliches Rumpeln im europäischen Getriebe, denn beim Ausscheiden der Insulaner erhöht sich aus Proporzgründen für 14 der 27 verbleibenden Nationen die Zahl der Sitze, obwohl die Gesamtzahl der Mandatsträger von 750 auf 705 reduziert wird. Dieser Schlüssel müsste wieder zurückgedreht werden.

Wahrscheinlicher ist jedoch ein anderes Szenario: Dem größten demokratischen Parlament der Welt, wie die deutsche Bundeskanzlerin bei einer Rede in Straßburg ihrem Auditorium einmal schmeichelte, werden künftig keine Repräsentanten der ältesten Demokratie der Welt mehr angehören. Das ist, wie man den Brexit auch immer bewertet, ein herber Verlust.

Dennoch: Die 705 Frauen und Männer aus 27 Nationen, die sich am 2. Juli das erste Mal versammeln, werden dann die politische Stimme von 450 Millionen Menschen sein. Das ist zwar nicht das ganze demokratische Europa, wie Kritiker einwenden. Norwegen, die Schweiz und Island zum Beispiel sind aus eigenem Willen nicht Mitglieder der Union. Aber einen Moment des Nachdenkens über die oft blutige Geschichte unseres Kontinents in den vergangenen 100 Jahren sind diese Fakten schon wert, auch wenn man Europas Ziele nicht nur über die Lehren aus der Vergangenheit definieren darf.

Welche Macht das europäische Parlament in den 40 Jahren seit der ersten Direktwahl errungen hat, kann man immer wieder erleben. Längst vergessen ist jene erste Politikergeneration, deren meist ältere Repräsentanten sich wie Würdenträger benahmen und auch so hofiert werden wollten.

Vielleicht sind die Briten in fünf Jahren wieder dabei

Das Ansehen des Parlaments gesteigert haben in ihrer Debattenkultur eher rauflustige Politiker wie Martin Schulz, dessen Kontroverse mit Silvio Berlusconi am 2. Juli 2003 so etwas wie ein Markstein parlamentarischen Selbstbewusstseins geworden ist. Dieses Parlament interpretiert seine Kompetenzen eher expansiv. Das wird sich erneut bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten zeigen. Zu dieser Gelegenheit demonstrieren die Staats- und Regierungschefs gerne ihr Vorschlagsrecht, als habe das Parlament ihnen zu folgen. Das muss es aber nicht.

Nein, dieses Hohe Haus hält die EU zusammen - wach, selbstbewusst und konfliktfreudig. Themen wie das Urheberrecht, die Sommerzeit, Migration, Energiesicherheit und die Beziehungen zu Russland standen gerade in Straßburg auf der Tagesordnung. Das Ringen um demokratische Standards der EU beschäftigt die Europäischen Volksparteien wegen fragwürdiger Entscheidungen ihrer in Polen und Ungarn in der Regierungsverantwortung stehenden Mitglieder.

Die Wahlen Ende Mai werden vermutlich Konservative und Sozialdemokraten schwächen und, perverse Realität, europafeindliche Parteien stärken. Das Parlament spiegelt eben die Befindlichkeiten der Menschen in den 27 Nationen, aus denen seine Abgeordneten kommen werden.

Die Briten werden dabei wohl nur zuschauen. Dabei waren sie überaus engagierte, leidenschaftliche Europa-Parlamentarier. Und wer weiß: Vielleicht sind sie in fünf Jahren ja wieder dabei.

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