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Wird es auf dem Wartesteig ab Juni überall voller sein? Straßenbahnkundschaft in Heidelberg.
© Uwe Anspach/dpa

Viel zu teuer und ungewisser Ausgang: Das Neun-Euro-Ticket ist eigentlich irre, aber genial

Drei Monate quasi Gratis-ÖPNV könnten klären, was Menschen von Bus und Bahn abhält: Angebot oder Preis. Hoffentlich hat der Feldversuch Folgen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Bisher geistert das Neun-Euro-Ticket vor allem – wenn nicht ausschließlich – als Problem durch die Nachrichten und die Köpfe der Menschen: Hier fehlt Geld, da fehlen Fahrzeuge und Waggons, anderswo Personal und überhaupt allen irgendwie ein Überblick. So kann Begeisterung kaum entstehen, doch das könnte sich bis zur geplanten Einführung ändern. Denn begeisterungswürdig ist das Vorhaben – und es bietet eine einmalige Gelegenheit.

Von Anfang Juni bis Ende August sollen die Menschen in Deutschland Busse, U-, S- und die Regionalbahnen nutzen können für einen Monatspreis, der den für eine 24-Stunden-Karte der Berliner Verkehrsbetriebe um gerade mal 20 Cent übersteigt. Das ist ein revolutionärer Feldversuch, der die Frage beantworten könnte, was die Menschen mehr vom ÖPNV abhält: Angebot oder Preis.

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So einen Praxistest hätte sich in gewöhnlichen Zeiten kaum jemand zu fordern getraut, geschweige denn, dass man ihn beschlossen hätte. Weil: eigentlich irre, viel zu teuer und ungewisser Ausgang. Noch äußern sich die Menschen in Umfragen konservativ, skeptisch – womöglich eine Folge auch der vielen problemorientierten Schlagzeilen.

Kein Parkplatzstress und im Lokal ein sorgenfreies Bier

Aber was könnte ebenso passieren in den drei Monaten: Die Menschen könnten in Größenordnungen ihre Autos ganz oder auf halber Strecke stehen lassen und sich mit Bus und Bahn durch die Städte schaukeln lassen.

Sie könnten es gut finden, nicht im Stau zu stehen, keine Parkplatzsorgen haben, im Lokal ein Bier ohne schlechtes Gewissen zu trinken. Sie könnten im Bus neue Straßen entdecken und Worte mit Fremden wechseln, mit denen sie sonst nie in Kontakt gekommen wären. Sie könnten am Ende der drei Monate denken: Wäre doch schön, wenn das so bleiben könnte. Und dann?

Dann wäre es schön, wenn das nicht folgenlos bliebe. Hier könnte sich der Bund, der das Neun-Euro-Ticket weitgehend finanziert, auch perspektivisch in der Pflicht sehen. Die Mobilitätswende gehört mit zur großen Transformation, hin zur klimaschonenderen Gesellschaft.

Sollte sich herausstellen, dass die Menschen über den Preis in den ÖPNV geholt werden könnten, liegt ein einfaches und sogar praxiserprobtes Instrument bereit, das sicher nicht gleichzeitig alle überall motivieren wird, aber in den vielen Ballungsgebieten Deutschlands durchaus einen klimarelevanten Unterschied machen kann. Und das zudem dem Leipziger Mobilitätsforscher Oliver Rottmann zufolge „sozial sinnvoll“ ist – was die ÖPNV-Verbilligung vom Tankrabatt unterscheidet, dem klimaignorantem Gegenstück im Energiepreisentlastungspaket des Bundes.

Dass das alles letztlich ausgelöst wird durch den Krieg in der Ukraine, ist und bleibt tragisch. Zugleich ist das Neun- Euro-Ticket nicht die einzige Neuerung, die nach dem Überfall Russlands auf den Nachbarstaat plötzlich in einem zuvor für unerreichbar gehaltenem Tempo umgesetzt wurde – bis hin zur geplanten Grundgesetzänderung zur Einrichtung des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, von dem die Welt vor acht Wochen zum ersten Mal überhaupt je gehört hat. Die Kosten für billigen ÖPNV blieben zweifelsohne eine Herausforderung, aber die drei Monate können für Mensch und Klima eine gute Erfahrung werden. Umso besser, wenn die nachhaltig wäre.

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