Tagesspiegel-Umfrage: Viele Deutsche wollen mit Neun-Euro-Ticket verreisen
Das Bundeskabinett hat das Billigticket für den Nah- und Regionalverkehr beschlossen. Beschäftigte der Deutschen Bahn sehen die Branche schlecht gerüstet.
Das Neun-Euro-Ticket weckt bei vielen Menschen Lust auf Urlaub. Deutschlandweit mit allen Bussen und Regionalzügen fahren für nur neun Euro pro Monat – dieses Angebot wollen in den Sommermonaten Juni, Juli und August viele Deutsche nutzen, um zu verreisen. Das zeigt eine repräsentative Civey-Umfrage im Auftrag von Tagesspiegel Background.
29 Prozent der Befragten können sich demnach vorstellen, mit dem von der Bundesregierung angekündigten Billigticket in die Ferien zu fahren. 64 Prozent schließen das aus. Hinzu kommen dürften auf touristisch interessanten Strecken rund um die großen Ballungsräume viele Tagesausflügler:innen.
Die Beschäftigten der Deutschen Bahn schauen deshalb mit gemischten Gefühlen auf das von der Ampel-Koalition mit dem Energie-Entlastungspaket vorgeschlagene Neun-Euro-Ticket. „Wir befürchten einen Andrang wie 1995 bei der Einführung des Schönes-Wochenende-Tickets. Damals mussten ganze Bahnhöfe geräumt werden. Die Menschen standen teilweise auf den Gleisen“, sagt Ralf Damde, Vizevorsitzender des Gesamtbetriebsrats bei DB Regio.
Ein Kraftakt für die Eisenbahner:innen
Damde hält das Neun-Euro-Ticket dennoch für „eine große Chance“. Es sei eine Art Feldversuch für einen dauerhaft günstigeren Regionalverkehr. Nur müsse die Politik auch die passenden Rahmenbedingungen schaffen, damit der Versuch gelinge. „Sonst heißt es am Ende, die doofen Eisenbahner sind diejenigen, die es nicht auf die Reihe kriegen.“
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Alle Gewerke bei DB Regio seien gefordert, sagt der Betriebsrat. So müssten auch an den Wochenenden nun längere Züge eingesetzt werden. „Die Disponenten müssen deshalb umplanen und die Werkstätten“, sagt Damde. Zudem brauche es häufigere Reinigungen der Regionalbahnen. „Und mehr Personal in den Zügen und auf den Bahnsteigen, um ein Chaos zu verhindern und die Sicherheit zu gewährleisten.“ Damde sieht deshalb viele Überstunden auf seine Kolleg:innen zukommen. Er fordert aber punktuell auch zusätzliches Personal – und von der Politik das dafür nötige Geld.
Länder kritisieren weiter die Finanzierung
Doch ob ausreichend Finanzmittel für die von vielen geforderte Angebotsoffensive und mehr Personal zur Verfügung stehen werden, ist fraglich. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat die für das Ticket nötige Änderung des Regionalisierungsgesetzes bereits an diesem Mittwoch vom Bundeskabinett beschließen lassen. Anschließend soll das Gesetz rasch vom Bundestag und voraussichtlich am 20. Mai auch vom Bundesrat beschlossen werden, damit das Neun-Euro-Ticket pünktlich zum ersten Juni eingeführt werden kann.
Das Finanzierungskonzept kritisieren die Länder jedoch weiterhin als unzureichend. Wissing hat 2,5 Milliarden Euro vorgesehen, um die Verkehrsunternehmen für entgangene Fahrgasteinnahmen zu entschädigen. Im Gegenzug will Wissing die diesjährige Corona-Hilfe des Bundes für den öffentlichen Nahverkehr von 1,6 auf 1,2 Milliarden Euro kürzen. Dieser Punkt wird von den Verkehrsminister:innen der Länder nun akzeptiert.
In einem Brief an Wissing fordert die Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz, Bremens Mobilitätsenatorin Maike Schaefer (Grüne), allerdings weiterhin, dass sich der Bund auch an gestiegenen Energie-, Bau- und Personalkosten zur Hälfte beteiligt. Die von den Ländern dafür veranschlagte Summe von 1,5 Milliarden Euro hat Wissing jedoch mehrfach abgelehnt. Schaefer wünscht sich zudem, dass der Bund auch dann einspringt, wenn das Neun-Euro-Ticket höhere Kosten als die prognostizierten 2,5 Milliarden Euro produziert.
Länder planen keine Angebotsoffensive
Ohne eine entsprechende Klausel und ein Entgegenkommen bei den Energie- und Baukosten dürften die Länder kaum geneigt sein, eine deutliche Erweiterung des Angebots zu finanzieren. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen droht dem Bund sogar mit einer Reduktion. Ohne Hilfen wegen der gestiegenen Energiekosten seien „die Unternehmen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gezwungen, das Betriebsangebot soweit zurückzufahren, wie die aktuelle Kostensituation dies noch zulässt“, sagte VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff am Dienstag.
Ralf Damde befürchtet im Sommer Engpässe in fast allen Teilen der Republik. Etwa in den Zügen, die von Hamburg und Berlin zur Nord- und Ostsee fahren, die an den Flüssen Rhein und Mosel unterwegs sind und in den Bahnen im Schwarzwald und im Alpenvorland.
FDP-Minister appelliert an Bahnunternehmen, sich vorzubereiten
Diese Gefahr sehen durchaus auch die Länder. Es lasse sich nicht ausschließen, „dass wir an schönen Wochenendtagen Überlastungen haben werden“, sagt Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Bernd Buchholz (FDP) Tagesspiegel Background. Sein Bundesland will deshalb etwa auf der Strecke von Hamburg nach Sylt zumindest größere Züge einsetzen. Zusätzliche Fahrten seien hingegen kurzfristig kaum möglich, erklärt das Kieler Verkehrsministerium. Buchholz rät Fahrgästen zudem bereits jetzt, Stoßzeiten zu vermeiden.
Der FDP-Politiker appelliert aber auch an die Bahnunternehmen, sich vorzubereiten: „Stellen Sie sich dafür auf, dass zwischen Juni und August viel zu tun sein wird“, sagt er. Gerade DB Netz als wichtigster Infrastrukturbetreiber stehe hier in der Verantwortung. „Tagelange Bahnübergangsstörungen oder Langsamfahrstellen können wir uns in diesem Sommer noch weniger leisten als sonst.“
Viele Bahnhöfe sind für Ansturm kaum gerüstet
Welche Anpassungen genau die Branche vornehmen wird, lässt sich derzeit nicht sagen. Bei der Deutschen Bahn AG, aber auch bei den Wettbewerbsbahnen, wird dazu noch beraten. Die Beschäftigten des Staatskonzerns weisen derweil auf viele praktische Probleme hin. An touristisch interessanten Bahnhöfen sei vielfach kein Personal mehr vorhanden, sagt Heike Moll, die Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der zuständigen Bahntochter DB Station & Service.
Dabei seien Mitarbeiter:innen auf den Bahnsteigen diesen Sommer dringend nötig. So bräuchten viele Menschen Hilfe, um ihre bis zu 25 Kilo schweren E-Bikes in den Zug zu bekommen. Das schafften die Zugbegleiter:innen nicht allein. Moll hat zudem Sicherheitsbedenken: „Ein 140 Prozent besetzter Zug darf nicht losfahren, der muss eigentlich geräumt werden.“ Für etwaige Räumungen müsse Rundum-Schutz gewährleistet sein, dafür sei DB-Sicherheitspersonal oder die Bundespolizei von Nöten, betont die Betriebsrätin.
Moll drängt deshalb auf eine rasche finanzielle Zusage der Politik, damit Hilfskräfte eingestellt werden können. Personal zu finden, werde auch so schwierig. Man könne für diese Aufgaben auch nicht einfach jemand von der Straße nehmen. „Es braucht deshalb vernünftige Arbeitsbedingungen“, das fange schon bei ausreichend Toiletten an. Noch fehlen diese an vielen Stationen. Mitarbeit: Jana Kugoth