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Ein Mitarbeiter des Seenotrettungsschiffs „Ocean Viking“ versorgt gerettete Migranten.
© picture alliance/dpa/SOS Mediterranee

Seenotretter Klaus Vogel: „Das Mittelmeer wird als Bollwerk gegen Migranten missbraucht“

SOS-Mediterranee-Gründer Klaus Vogel über Probleme der Seenotrettung, die Rolle der Politik und seine Scham, das Bundesverdienstkreuz zu erhalten.

Klaus Vogel ist 64 Jahre alt und Kapitän und Historiker. Er ist Initiator und Gründer von SOS Mediterranee und hat am Freitag das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen bekommen. Im Mai 2015 gründete er gemeinsam mit der Französin Sophie Beau in Berlin SOS Mediterranee. Heute hat SOS Mediterranee vier Vereine in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz, die gemeinsam das Rettungsschiff „Ocean Viking“ betreiben. Bislang konnten die Teams an Bord 32.947 Menschen aus Seenot retten.

Herr Vogel, Sie haben SOS Mediterranee 2015 gegründet, nachdem das italienische Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum beendet wurde. Nun haben Sie für Ihr langjähriges Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Haben Sie damals damit gerechnet, dass sechs Jahre später noch immer nichtstaatliche Organisationen im Mittelmeer benötigt werden?
Nein, so weit konnte damals niemand in die Zukunft schauen. Ich hatte gehofft, dass wir mit unserer und den vielen anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich zu dieser Zeit gegründet haben, die Politik schneller aufrütteln und dazu bringen könnten, die Seenotrettung besser zu organisieren und selbst aktiv zu werden.

Dass sich die europäischen Regierungen über einen so langen Zeitraum weigern würden und sogar unsere Schiffe zeitweise blockiert werden, habe ich so nicht kommen sehen.

Klaus Vogel (64) ist Kapitän und Historiker. 2015 gründete er die Seenotrettungsorganisation SOS Mediterranee. Am Freitag wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.
Klaus Vogel (64) ist Kapitän und Historiker. 2015 gründete er die Seenotrettungsorganisation SOS Mediterranee. Am Freitag wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.
© Thilo Rückeis

Wie steht die zivile Seenotrettung da?
Wir haben mittlerweile eine etablierte zivilgesellschaftliche Seenotrettung im zentralen Mittelmeer, die zwar niemals alle Menschen vor dem Ertrinken retten kann, aber die wenigstens vor Ort ist, um zu helfen und die Lage zu bezeugen – wenn die Schiffe nicht festgesetzt sind, was leider massiv praktiziert wird.
Unsere Präsenz ist dort dringend notwendig, denn von großen Teilen der europäischen Politik wird das Mittelmeer als Bollwerk gegen Migranten missbraucht. Nach wie vor fehlen ein europäisches, staatliches Seenotrettungsprogramm und sichere Wege für schutzbedürftige Menschen.

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Sie und ihre Kollegen kritisieren auch die Bundesregierung dafür, sich nicht klar genug zu positionieren. Mit welchem Gefühl nehmen Sie die Auszeichnung entgegen?

Ich widme das Bundesverdienstkreuz den Menschen, die im Mittelmeer gestorben sind und dort noch immer fast täglich ihr Leben riskieren – und all denen, die mit uns Seenotrettung betreiben und unterstützen.
Gleichzeitig beschämt es mich, eine hohe Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland anzunehmen, deren staatliche Vertreter uns bei den Rettungseinsätzen bisher keineswegs immer eindeutig und mit allem Nachdruck zur Seite stehen. Insofern fühle ich mich sehr zwiespältig. Ich habe mich aber dafür entschieden, das Verdienstkreuz als Gesprächsangebot anzunehmen.

Bei der Verleihung konnten Sie jedoch nicht mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier persönlich sprechen, denn verliehen hat Ihnen das Bundesverdienstkreuz die Berliner Staatssekretärin Sigrid Klebba. Waren Sie darüber enttäuscht?
Für Herrn Steinmeier wäre dies die Chance gewesen, in einer brennend aktuellen Frage öffentlich Mut zu zeigen und klar Position zu beziehen. Diese Möglichkeit hat er leider verstreichen lassen, das bedauere ich.

Für die Gründung der Organisation haben Sie damals Ihren Job als Handelsschiffskapitän gekündigt. Was waren Ihre persönlichen Beweggründe dafür?
Der unmittelbare Auslöser war die Empörung über das Verhalten meiner damaligen Reederei Hapag-Lloyd. Uns Kapitänen wurde nahegelegt, uns von den Flüchtlingsbooten möglichst fernzuhalten. Die Kollegen nahmen das schweigend hin, obwohl es die Pflicht jedes Seefahrers ist, Menschen vor dem Ertrinken zu retten.
Dieses Verhalten war für mich inakzeptabel und ein Wendepunkt. Daraufhin habe ich mich von der Reederei getrennt und SOS Mediterranee gegründet.

Sie sind am Anfang selbst Einsätze gefahren. Was davon ist Ihnen in Erinnerung geblieben?
Die Lebensgefahr der Flüchtenden in den unsicheren und überbesetzten Booten und ihre Berichte aus den libyschen Folterlagern haben mich zutiefst erschüttert. Die persönliche Begegnung mit den Geretteten hat mir ihre furchtbare Lage vor Augen geführt und klargemacht, dass wir diese Menschen nicht im Stich lassen dürfen.

Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ der Organisation SOS Mediterranee.
Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ der Organisation SOS Mediterranee.
© Ingenito/ANSA/dpa

Seitdem die europäischen Regierungen mit der libyschen Küstenwache kooperieren, sollen die Geflüchteten dorthin zurückgebracht werden – dieses Jahr waren es bereits mehr als 14000 Menschen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
In Europa wird noch immer nicht verstanden, dass viele Menschen erst durch die massiven Menschenrechtsverletzungen in Libyen keinen anderen Ausweg sehen, als über das Meer zu flüchten.
Sie haben Arbeit gesucht und sind in die Falle geraten.

Die menschenunwürdigen Bedingungen in dem Bürgerkriegsland, die allgegenwärtige Gewalt und die Misshandlungen in den Internierungslagern führen dazu, dass Libyen kein sicherer Ort ist, zu dem die Geretteten zurückgebracht werden dürfen. Das ist ein Bruch geltenden Völkerrechts und es ist zutiefst inhuman.

Die EU macht sich daran mitschuldig, wenn sie die libysche Küstenwache weiter aufbaut und finanziert.

Laut der internationalen Organisation für Migration sind dieses Jahr bereits fast 700 Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken. Was müsste die Europäische Union aus Ihrer Sicht tun, um die humanitäre Katastrophe zu beenden?
Es braucht eine umfassende Änderung der europäischen Migrationspolitik und sichere Wege, die es Menschen legal ermöglichen, nach Europa zu kommen.
Das zu verändern, ist ein langer Prozess. Deshalb bleibt es kurzfristig dringend erforderlich, weiter Menschenleben zu retten, denn das zentrale Mittelmeer ist die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Die Humanität muss an erster Stelle stehen.

Wie sieht Ihre Arbeit für die Organisation heute aus?
Ich habe 2017 den Vorsitz des Vereins und die operative Tätigkeit an jüngere Kollegen übergeben und war bis Ende 2020 als Kapitän eines Handelsschiffes für die Reederei Laeisz in Ostasien unterwegs. Seit Beginn des Jahres bin ich im Ruhestand und als Ehrenvorsitzender für SOS Mediterranee weiterhin aktiv.

Ist es schwieriger geworden, einen Zugang zu politischen Vertretern zu finden?
Zu einzelnen Personen gelingt das immer wieder. Über Parteigrenzen hinweg erfahren wir Würdigung und Respekt und führen Gespräche. Trotzdem wirkt sich dies nicht spürbar auf die Politik aus. Letztlich wird die Verantwortung für die verfahrene Lage innerhalb der EU auf andere geschoben und nicht gehandelt. Deutschland und auch Bundesaußenminister Heiko Maas positionieren sich nicht entschieden genug.

Sie sind nicht nur Kapitän, sondern auch Historiker. Hat das Ihre Sicht auf die Dinge beeinflusst?
Ich wäre wahrscheinlich nicht zu dieser Unternehmung der zivilen Seenotrettung flüchtender Menschen aufgebrochen, wenn ich nicht auch Historiker wäre. Das hilft mir, eine andere Perspektive einzunehmen und auch auf vergangene Entwicklungen zurückzublicken.

Ich habe beispielsweise als junger Offizier das Südchinesische Meer vor Vietnam passiert - zu einer Zeit, als dort Zehntausende Menschen in überladenen Fischerbooten flüchteten. Damals haben die "Cap Anamur" und die "Ile de Lumière" mehrere Tausend Flüchtende gerettet und in Sicherheit gebracht. Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt. Ich denke, künftige Historiker werden auf unsere Lage heute blicken und nicht verstehen, warum europäische Regierungen nicht schneller und mutiger gehandelt haben, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden.

Kristin Hermann

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