Konflikt in der Ostukraine: "Das Leid der Menschen ist unsäglich"
Der Vize-Chef der OSZE-Beobachter in der Ukraine, Alexander Hug, über die instabile Lage im Donbass, zivile Opfer und über die Idee einer internationalen Friedenstruppe.
Herr Hug, warum gibt es nach vier Jahren noch immer keinen Frieden in der Ostukraine?
Unsere Beobachter stellen täglich Verstöße gegen die Waffenruhe fest. Bisher sind es in diesem Jahr durchschnittlich 700 pro Tag. Die Lage ist instabil und unberechenbar. Die Seiten stehen einander viel zu dicht gegenüber, sie haben sich im letzten Jahr sogar noch weiter auf die Kontaktlinie zubewegt. Außerdem sehen wir immer noch schwere Waffen – Panzer, Mörser, und Mehrfachraketenwerfer – an Orten, an denen sie nicht sein dürfen. Die stehen dort nicht nur, sondern werden auch eingesetzt. Das führt zu zivilen Opfern und Schäden an der Infrastruktur. Leider fehlt es aber am Willen, die Waffenruhe umzusetzen. Wir wissen, dass das möglich ist. Im vergangenen Jahr wurden die Kämpfe vier Mal über Nacht stark reduziert: zu Ostern, zur Erntezeit, am Anfang des Schuljahres und über Weihnachten.
Wie viele zivile Opfer gab es im vergangenen Jahr und seit Jahresanfang?
Gemäß unseren Beobachtungen wurden im letzten Jahr 86 Zivilisten getötet und 393 verletzt. Seit Anfang Januar gab es vier Tote und 14 Verletzte.
Und wie viele Soldaten und Kämpfer wurden getötet?
Das ist schwer festzustellen. Wir haben nicht überall Zugang, das gilt besonders für die nicht von der Regierung kontrollierten Gebiete.
Die ukrainische Armee veröffentlicht regelmäßig Berichte über getötete Soldaten. Über die Opferzahlen auf der Seite der Russen und der Separatisten ist dagegen fast nichts bekannt. Was können Sie darüber sagen?
Wir haben ohnehin schon große Probleme, in diesen Gebieten in offizielle Einrichtungen hineinzukommen. Wenn es dann noch um verletzte Bewaffnete geht, wird es noch schwieriger.
Wie gefährlich ist es vor Ort für die Beobachter?
Unsere unbewaffneten Beobachter leben und arbeiten auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Wie für andere Zivilisten ist es für sie schwierig, ihre Arbeit in den Brennpunkten auszuführen. Gefahren bestehen zum einen durch Minen und nicht explodierte Munition, zum anderen gibt es das Risiko, in einem Artilleriegefecht ins Kreuzfeuer zu geraten. Das sind auch die Hauptursachen für Todesopfer in der Zivilbevölkerung.
Aber es gibt doch längst eine Vereinbarung, die Minen zu räumen.
Wir sehen jetzt sogar vermehrt, dass neue Minen gelegt werden. Die Phasen relativer Ruhe wurden nicht genutzt, um die Maßnahmen aus den Minsker Vereinbarungen umzusetzen. Stattdessen gab es Vorbereitungen für neue Gewalt. Es wurden mehr Schützengräben gebaut, neue Minenfelder anlegt, und alle Seiten rückten weiter an die Kontaktlinie heran. An manchen Stellen sind sie nur noch 10 bis 20 Meter voneinander entfernt. Ein Aufflammen der Kämpfe hätte heute viel größere Folgen als noch vor einem Jahr.
Gelegentlich wird eine lokal begrenzte Waffenruhe verabredet, um zerstörte Infrastruktur wie zum Beispiel Wasserleitungen zu reparieren. Ist das ein Fortschritt?
Es gibt viele Schäden an der Infrastruktur, die behoben werden müssen. Dafür werden durch und lokale „Ruhefenster“ vereinbart, wie wir das nennen. Da aber die Grundursachen der Kämpfe nicht beseitigt werden, halten diese Vereinbarungen nicht lange. Die gerade reparierte Infrastruktur wird dann wieder zerstört. Es ist, als würde Don Quixote gegen Windmühlen kämpfen.
Gibt es Anzeichen dafür, dass sich die Beteiligten darauf einrichten, dass es diesen Konflikt noch sehr lange geben wird?
Ich würde davon abraten, die jetzige Situation in irgendeiner Weise als normal zu betrachten. Wenn man unsere Berichte liest, dann sieht zwar jeder Tag ähnlich aus wie der vorige. Aber die Realität vor Ort ist alles andere als normal. Die Zivilbevölkerung fleht geradezu darum, diesen Zustand nicht als normal anzuerkennen.
Wie ist die humanitäre Lage im Konfliktgebiet?
Dort, wo gekämpft wird, ist die Lage sehr schwierig. Es gibt immer wieder Unterbrechungen von Wasser, Gas und Strom. Das hat einen Dominoeffekt. Wenn der Strom ausfällt, funktioniert die Heizung nicht mehr, und es gibt auch kein Wasser, weil die Pumpe ausfällt. Die Gefahr durch Minen und nicht explodierte Munition ist hoch, das Passieren der Kontaktlinie ist gefährlich. Im nicht von der Regierung kontrollierten Gebiet ist es für humanitäre Organisationen zudem schwierig, die Leute zu erreichen.
Was halten Sie von der Idee einer UN-Friedenstruppe für den Donbass?
Ich kann nur über den Vorschlag reden, der offiziell auf dem Tisch liegt. Der russische Vorschlag vom September 2017 sieht keine Friedensmission vor, sondern eine Art Schutztruppe für die Beobachtermission. Die größten Gefahren für uns sind die Minen und die schweren Waffen. Eine leicht bewaffnete Einheit kann hier wenig ausrichten. Trotzdem glaube ich, dass die Diskussion über eine zusätzliche friedenssichernde Maßnahme wichtig ist. Das zeigt, dass die Suche nach einer Lösung des Konflikts wieder in den Vordergrund rückt.
Im vergangenen Jahr haben Sie gesagt: Die Möglichkeit zum Frieden liegt sehr nahe. Sehen Sie das heute auch noch so?
Ja. Wenn die Seiten wollen, können sie die Gewalt kurzfristig stoppen. Die Einheiten am Boden sind unter Kontrolle. Positiv ist auch, dass die Zivilbevölkerung nicht an diesen Konflikt glaubt und immer noch in großer Zahl die Kontaktlinie überquert, bis zu 40.000 Ukrainer tun das jeden Tag. Das sieht man in anderen Konflikten nicht. Die Menschen in der Ostukraine entwickeln keinen Hass gegen die Bevölkerung auf der jeweils anderen Seite der Kontaktlinie. Sie verstehen nicht, warum es diesen Konflikt überhaupt gibt und warum er nun schon im vierten Winter weitergeht. Diese Fakten machen Hoffnung. Alles Weitere liegt in den Händen derer, die in der Lage sind, den Konflikt zu beenden.
Brauchen wir also eine neue diplomatische Initiative?
Es braucht diplomatischen Druck, damit die vereinbarten Maßnahmen umgesetzt werden. Man darf die Situation auf keinen Fall als normal akzeptieren. Denn wenn das passiert, entfällt der Druck, und dann wird der Anreiz, Abhilfe zu schaffen, verschwindend klein. Das Leid der Menschen an der Kontaktlinie ist unsäglich, schafft es aber nur selten in die Nachrichten. Man spricht zu wenig über die getöteten Zivilisten oder die 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Das muss sich ändern.