Nach dem Urteil: Das Kopftuch bleibt ein Symbol der Unfreiheit
Individuell mag das Kopftuch ein Zeichen von Glaube, Mode und Privatsache sein. In der Schule aber ist eine Lehrerin nicht nur Privatperson. Zu begrüßen ist das Urteil aus Karlsruhe deshalb nicht. Ein Kommentar.
Ist es das wirklich gewesen: ein Sieg der Bekenntnisfreiheit und ein Gewinn für eine pluralistische, weltoffene Gesellschaft? So jedenfalls wurde das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftucherlass für muslimische Lehrerinnen vom Großteil der deutschen Presse begrüßt. Eine Ausnahme macht fast nur Iris Radisch in der neuen „Zeit“: „Nicht mit mir!“
Die Karlsruher Richter haben zwei Lehrerinnen in Nordrhein- Westfalen recht gegeben, die gegen das Kopftuchverbot an ihren Schulen geklagt hatten. Sie dürfen es künftig im Unterricht tragen, so lange sie ihre Schüler und Schülerinnen nicht indoktrinieren, für den Islam missionieren oder allein schon durch ihre religiös begründete Kopfbedeckung den „Schulfrieden“ im Verhältnis mit anders- oder freigläubigen Schülern, Lehrern oder gar Eltern „konkret gefährden“.
Neutralität bedeutet keine Absage an Religionen
Das Urteil richtet sich unmittelbar nur gegen die Auslegung des NRW-Schulgesetzes, betrifft im Tenor aber auch alle anderen Bundesländer. Das Neutralitätsgebot an staatlichen öffentlichen Schulen, die sich nicht als bekenntnisgebundene kirchennahe Anstalten verstehen, wird insoweit eingeschränkt, als das Kopftuchtragen vom Gericht zum Kernbereich des islamischen Glaubens und (trotz unterschiedlicher Koran-Auslegungen) konstitutiv zum persönlichen Grundrecht der Religionsfreiheit gerechnet wird. Selbst in Ausübung eines Amtes wird das Tuch so zur Privatsache erklärt. Außerdem dürfe es keine Ungleichbehandlung gegenüber der Zurschaustellung christlicher oder jüdischer Symbole wie Kreuze oder Kippas geben. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.
Selbstverständlich zumindest dann, wenn eben nicht jegliche religiöse Symbole in den Räumen bekenntnisfreier Schulen aus guten Gründen (wie im Berliner Gesetz) untersagt sind. Diese Neutralität bedeutet keine Absage an die Religionen oder ein Bekenntnis zum Atheismus. Es bedeutet vielmehr: wirkliche Pluralität, in der Kinder und Jugendliche nach ihrer möglichst frei gewählten Façon selig werden sollen. Ohne eine auch nur symbolische Beeinflussung durch ihre (idealiter) als Vorbilder verstandenen Lehrerinnen und Lehrer. In einer dissenting vote sehen deshalb eine Richterin und ein Richter in Karlsruhe das grundgesetzliche staatliche Neutralitätsgebot durch die Mehrheit ihrer Kollegen in Frage gestellt.
Vielleicht dient eine Kopftucherlaubnis für muslimische Lehrerinnen in manchen Bezirken tatsächlich dem sozialen Frieden oder, hoffentlich, auch dem schulischen Erfolg. Und natürlich gibt es junge Muslima, die ihren Schleier aus freier religiöser Überzeugung, ohne familiären Zwang, stolz und womöglich in bewusster Unterscheidung zu manch westlichem Gebaren („Schlampen-Exhibitionismus“) tragen. Aber mehrheitlich existiert in den muslimischen Gemeinschaften eben keine oder nur eine eingeschränkte religiöse Wahlfreiheit, und es fehlt, apropos Ungleichheit, die elementar menschenrechtliche Gleichstellung von Mann und Frau.
Man lese dazu nur die bewegende Rede der Schauspielerin Sibel Kekilli auf ihrer Homepage nach, die auf Einladung des Bundespräsidenten und der Hilfsorganisation Terres des Femmes am 6. März im Berliner Schloss Bellevue davon sprach, welchen Mut es braucht, als junges muslimisches Mädchen ein freies, selbstbestimmtes Leben zu wählen.
Islamische Mädchen werden weit vor der Pubertät gedrängt, ein Tuch zu tragen
Der italienische Essayist Paolo Flores D’Arcais schreibt in der neuen Ausgabe der Zeitschrift „Lettre“ zum Thema „Wer ist Charlie?“: „Ein reformierter und säkularisierter Islam (erscheint) heute nahezu inexistent. Sich dies nicht einzugestehen, ist Blindheit und die reinste Heuchelei des westlichen Establishments...“
Eine pauschale Verachtung der „Kopftuchmädchen“ à la Thilo Sarrazin ist gewiss diffamierend. Doch nicht nur Neuköllns Ex-Bürgermeister Heinz Buschkowsky nimmt wahr, dass inzwischen islamische Mädchen weit vor der Pubertät schon gedrängt werden, ein Tuch zu tragen. Und in seinem neuesten Buch „Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne“ weist der – keineswegs antiislamische – Philosoph Slavoj Zižek darauf hin, das „Bedürfnis, Frauen verschleiert zu halten, spricht für eine extrem sexualisierte“ Sicht und Nichtsicht auf Frauen.
Kopfhaar als Schamhaar erweist genuin kein autonomes weibliches Selbstbild, sondern den Blick und die Macht der Männer, die für sich selber keine Verhüllungsvorschriften kennen. Individuell mag das Kopftuch ein Zeichen von Glaube, Mode und Privatsache sein. Allgemein bleibt es ein Symbol der Ungleichheit und Unfreiheit.
Peter von Becker