Verhaftungen von Anwälten in der Türkei: "Das ist Gift für die unabhängige Justiz"
Tausende Richter und Staatsanwälte wurden geschasst, nun häufen sich in der Türkei die Festnahmen von Anwälten. Juristen in Deutschland sind schockiert - und sehen auch Risiken für deutsche Kollegen.
Deutsche Anwälte prangern unhaltbare Zustände in der türkischen Justiz an und sind in großer Sorge wegen der jüngsten Festnahmen von Berufskollegen in dem Land. „Die Situation der Anwaltschaft in der Türkei wird von Woche zu Woche schlechter“, sagte der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Anwälte werden in Mithaftung genommen für ihre Mandanten. Das ist eine perfide Logik zu sagen: Wer einen Angeklagten verteidigt, ist selbst auch schon böse.“ Es gebe Fälle in der Türkei, in denen Angeklagte keinen Verteidiger gefunden hätten, „weil die Anwälte Angst haben“.
Nach der Verhängung des Ausnahmezustands im Juli vergangenen Jahres wurden in der Türkei Regierungsangaben zufolge rund 150.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen. Im Justizwesen wurden über 3.800 Richter und Staatsanwälte ihres Amtes enthoben. Das ist mehr als ein Viertel der insgesamt 14.000 Richter und Staatsanwälte im Land. Auch mehrere Anwälte wurden unter Terrorverdacht inhaftiert. Erst am Donnerstag hatte ein Gericht in Istanbul Untersuchungshaft gegen 14 Anwälte wegen Terrorverdachts erlassen.
"Es gibt kein Anwaltsgeheimnis"
Schellenberg sagte, sein Verband habe das Land im Januar und Juni besucht. Schon zu Jahresbeginn seien Anwälte verhaftet worden und Repressionen zu beobachten gewesen. „Die Situation ist aber in den letzten Wochen und Monaten dramatisch schlechter geworden.“ Präsident Recep Tayyip Erdogan versuche, unter Richtern und Anwälten ein „System der Angst“ zu schaffen. „Das ist Gift für die unabhängige Justiz.“ Auch für Inhaftierte, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen würden, sei die Lage sehr schwierig. „Die Anwälte dürfen sich bei Treffen mit ihren Mandanten keine Notizen machen. Die Gespräche werden mit Videokameras aufgezeichnet. Es gibt kein Anwaltsgeheimnis. Das ist ganz einfach nicht rechtsstaatlich.“ Ankara beschuldigt Anhänger des Predigers Fetullah Gülen, mitverantwortlich für den Putschversuch im Juli 2016 zu sein.
Schellenberg sagte, unter diesen Bedingungen sei eine Anwaltsbetreuung nur schwer möglich. Das gelte auch für die inhaftierten Deutschen in der Türkei. Derzeit befinden sich mehrere Deutsche wegen des Verdachts politischer Straftaten in türkischer Haft, etwa wegen mutmaßlicher Unterstützung von Terroristen oder Putschisten. Darunter sind der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner. Die Inhaftierungen sorgen - neben anderen Streitpunkten - für schwere Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei.
Verhaftungen von deutschen Anwälten "nicht auszuschließen"
Schellenberg äußerte auch Sorge über mögliche Risiken für deutsche oder deutsch-türkische Anwälte, die beruflich in der Türkei zu tun haben. „Das Vorgehen der türkischen Behörden wirkt unglaublich willkürlich. Und wenn Sie mit einer willkürlichen Verhaftung rechnen müssen, dann kann es jeden treffen“, sagte er. „Deshalb ist überhaupt nicht auszuschließen, dass - so wie deutsche Journalisten - auch deutsche Anwälte festgenommen werden und im Gefängnis landen.“ Er riet seinen Berufskollegen zu „sehr großer Vorsicht und Umsicht“ bei ihrer Arbeit.
„Diese Entwicklung in der Türkei, diese systematische Verfolgung Andersdenkender, hätte ich mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können“, beklagte der Verbandschef. „Das ist kein Rechtsstaat mehr. Das sind autoritäre Strukturen. Es gibt keine Unschuldsvermutung. Es gibt keine effektive Verteidigung. Es gibt keine unabhängige Justiz.“ (dpa)