Der Breitscheidplatz historisch: Das Herz des Westens
Symbol des Friedens, Symbol des Krieges: Breitscheidplatz und Gedächtniskirche stehen für hundert Jahre Berliner Geschichte – von der Großmannssucht bis zum Durchhaltewillen.
Der Breitscheidplatz, der von den beiden Türmen der Gedächtniskirche überragt wird, ist ein Symbolort mit großer Ausstrahlung. Die „New York Times“ adelte ihn gerade in ihrer Berichterstattung über die Terror-Attacke zur „West-Berliner Version des Herald Squares oder des Piccadilly Circus’“, relativierte aber sogleich: „Es ist kein besonders schöner Ort, bürgerlich, aber nicht schick.“ Im Lauf der letzten hundert Jahren hat sich die Bedeutung des Platzes mehrmals gewandelt. Ursprünglich stand die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, eine neoromanische Trutzburg mit sechs Türmen, für den imperialen Anspruch des Kaiserreichs. Im Inneren verherrlichten Mosaiken Deutschlands Sieg im Krieg gegen Frankreich von 1870/71.
Zwei Weltkriege später brannte das Gebäude nach einem britischen Luftangriff im November 1943 aus. Der halb zerstörte Hauptturm, von den Berlinern liebevoll-spöttisch „hohler Zahn“ genannt, wurde nach der Kapitulation nicht, wie zunächst geplant, abgerissen, sondern stehen gelassen, als Mahnmal für den Frieden. „Der Turm soll an das Gericht Gottes erinnern, das über unser Volk hereinbrach“, heißt es schwülstig auf einer Gedenktafel. Dass nun ausgerechnet der Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche zum Ziel eines Anschlags wurde, soll eine Botschaft aussenden: Der Frieden ist vorbei, ein neuer Krieg hat begonnen. Auf diese Kampfansage muss man sich nicht einlassen. Es handelt sich um Terror, nicht um einen Krieg der Kulturen oder Religionen.
Hier glitzerte die Halbstadt als Schaufenster eines fröhlichen Konsumismus
Schon die wechselnden Namen des Platzes erzählen eine kleine deutsche Kulturgeschichte. Zunächst hieß er Gutenbergplatz, ab 1892 dann nach der Kaiserin Auguste-Viktoria-Platz, bevor er 1947 in Breitscheidplatz umgetauft wurde. Rudolf Breitscheid ist ein sozialistischer Märtyrer, der ehemalige preußische SPD-Innenminister war 1944 im KZ Buchenwald gestorben. Als der Kalte Krieg begann, stiegen Platz und Kirche zum wichtigsten West-Berliner Wahrzeichen auf. Das Brandenburger Tor, bis dahin das Emblem der ungeteilten Stadt, war durch seine Lage im Sperrgebiet jenseits der Mauer in eine unerreichbare Randlage entrückt. So verkörperte der Breitscheidplatz spätestens seit der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ 1961 den Durchhaltewillen des freien Westens.
Hier glitzerte die Halbstadt als Schaufenster eines fröhlichen Konsumismus besonders verführerisch. Über den Kaufhäusern, Kinos und Cafés der benachbarten Einkaufsmeilen Tauentzien und Kurfürstendamm leuchteten Neonschriftzüge, und auf der Spitze des Europa-Centers, das 1965 als bis dahin höchstes Berliner Hochhaus eröffnet wurde, drehte sich majestätisch ein Mercedes-Stern.
„Ein beliebter Treffpunkt für junge Reisende ist der Schmettau-Brunnen“, heißt es in einem Tagesspiegel-Text von 1985. Das kugelförmige Wasserspiel, vom Bildhauer Joachim Schmettau in rotem Granit verwirklicht und gerne als „Wasserklops“ bezeichnet, entwickelte sich zum Anziehungspunkt für Jugendliche, Flaneure und Tagträumer, vor denen ein paar Jahre vorher noch als „Gammler“ gewarnt worden wäre. Bis heute blieb diese Ecke des Platzes eine Stadtbühne, auf der Jongleure, Skateboard-Artisten und Hip- Hopper ihre Auftritte zelebrieren. An wenigen Orten wirkt Berlin so urban und lebendig wie hier.
Diese Weltläufigkeit hat Tradition. Dort, wo sich heute das Europa-Center erhebt, stand einst das Romanische Café, benannt nach seinem neoromanischen Baustil. Dort ging die kulturelle Elite der Weimarer Republik ein und aus, darunter George Grosz, Alfred Döblin, Bert Brecht und Else Lasker-Schüler. Kein anderes Lokal wurde so geliebt, keines so oft verspottet, etwa von Erich Kästner: „Das Romanische Café ist der Wartesaal der Talente. Es gibt Leute, die hier seit zwanzig Jahren, Tag für Tag, aufs Talent warten.“ 1943 versank es im Bombenkrieg.
Nach ihrer Einweihung am 1. September 1895, dem Vorabend des „Sedantages“, war die von Franz Schwechten entworfene Gedächtniskirche zunächst auf wenig Gegenliebe gestoßen. Die Bauarbeiten hatten mit 6 410 000 Reichsmark fast das Zehnfache der ursprünglich veranschlagten Summe verschlungen. „Ist es nicht schwer, zwischen Gold und Marmor vom Mammon zu predigen?“, fragten protestantische Reformkreise. Und der Kunstkritiker Karl Scheffler sah im auftrumpfenden Kirchenhaus den Ausdruck einer „reglementierten Staatsreligion, die als Moralpolizei auftritt und vor die sozialen Abgründe ihrer Zeit ihre reich verzierten Kirchenkulissen stellt“.
Dabei war das Gotteshaus mit seinen 1500 Sitzplätzen von Anfang an als Denkmal geplant gewesen, genauer gesagt als „nationales Denkmal, das uns und alle zukünftigen Geschlechter erinnern soll an die unvergleichliche Größe und das unermessliche, weltgeschichtliche Verdienst des ersten Deutschen Kaisers“. Gemeint war der greise Kaiser Wilhelm I., der wegen seines weißen Bartes auch als „Barbablanca“ gefeiert und zum Wiedergänger des Staufer-Kaisers Friedrich Barbarossa stilisiert wurde.
Mit Wilhelm I. sollte, das war der Plan, Deutschlands Rückkehr zur alten Größe beginnen. Wände, Decken und Böden der Kirche waren auf 2740 Quadratmetern mit Mosaiken bedeckt. Die Darstellungen, die sich im bis heute als Gedenkhalle fungierenden Eingang erhalten haben, wirken besonders machtlüstern. Da führt ein Engel die Hohenzollern-Kaiser Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. zum Thron, um zu demonstrieren, dass sie von Gott selbst eingesetzt wurden. Dabei war das absolutistische Konzept des Gottesgnadentums zu diesem Zeitpunkt längst obsolet geworden.
Kein Wunder, dass die Stadtplanung nach dem Krieg auf diesem Platz eigentlich Tabula rasa machen wollte. Der Architekt Egon Eiermann, der mit seinem Entwurf 1957 den Wettbewerb für die Neubebauung gewann, hielt den alten Turm für eine „baukünstlerische Belanglosigkeit“. Doch die Berliner Bürger bombardierten den Senat mit Protestbriefen und forderten, dass keine „Eierkiste“ die „schönste Ruine“ der Stadt ersetzen dürfe. Heraus kam ein Kompromiss, Eiermann platzierte seine Neubauten – die achteckige Kirche, den sechseckigen Glockenturm und die Kapelle – als „Spiel des Neuen um den alten Turm herum“. Eingeweiht wurde die neue Gedächtnis-Kirche im Dezember 1961, vier Monate nach dem Mauerbau.
20.000 Bleiglasfensterchen verwandeln Eiermanns neue Gedächtniskirche mit ihrer Rasterfassade im Inneren in eine blau leuchtende Grotte. Wer im heruntergedimmten Licht auf einem der hölzernen, schwarz gepolsterten Nachkriegsstühle Platz nimmt, der kann durchatmen und seine Gedanken schweifen lassen. Über dem schlichten Altartisch schwebt eine Christusfigur mit ausgebreiteten Armen, die vom Bildhauer Karl Hemmeter stammt. Jesus zeigt seine Wundmale an Händen und Füßen, aber das Kreuz fehlt. Die Zeit scheint stillzustehen in diesem Raum, meditative Ruhe liegt über allem.
Auch Montagnacht war das blaue Leuchten zu sehen, diesmal aber in den Nachrichtenprogrammen der Fernsehsender. Es strahlte aus der Kirche heraus auf den Platz, wo sich Blaulichter drehten und die dunkle Silhouette des Lastwagens zu erkennen war, der hier in die Besuchermenge auf dem Weihnachtsmarkt gerast war. Das Leuchten war ein Zeichen der Hoffnung.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität