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Innehalten ist das Gebot der Stunde
© Reuters

Anschlag auf Weihnachtsmarkt in Berlin: Hört auf mit den guten Ratschlägen!

Heute Gefühl, ab morgen dann wieder Politik: Das scheint die Regel im Umgang mit dem Terror zu sein. Heute Andachten, ab morgen wieder Talkshows. Es geht alles sehr schnell. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wie machen sie das bloß? Keiner ringt mit den Worten, alle wissen ganz schnell Bescheid. „Bescheid!“, rufen sie laut und deuten den Terroranschlag emsig hin und her, noch bevor das Blut der Opfer vom Asphalt entfernt wurde. Die Islamophilen sind’s, die Islamophoben sind’s, der dekadente Westen ist es, das musste ja passieren! So dröhnt es von allen Seiten auf das Ereignis herab. Flott dabei auch wieder die Instrumentalisierer, die den anderen Instrumentalisierern Instrumentalisierung vorwerfen. Eine Kakophonie der Parolen und guten Ratschläge ertönt. Jetzt nicht überreagieren, die Freiheit nicht für die Sicherheit opfern, keinen Pauschalverdacht in die Welt setzen!

Ja, ja, das wissen wir doch alles. Ist ja nicht das erste Mal. Viele haben sie gestern im Fernsehen gesehen, die ewig lange Chronologie der islamistischen Terroranschläge – New York, Madrid, London, Brüssel, Nizza, Paris undundund. Ist denn das Maß der Trauer, die sich dafür aufbringen lässt, unendlich groß? Ist sie anders, weil der Tatort so nahe? Plötzlich wird man selbst angerufen – von fernen Freunden, die wissen wollen, ob es einem in Berlin gut geht, an diesem Abend, ob man wohlbehalten ist, wie das schöne Wort dafür heißt. Irgendwas ist tatsächlich anders.

Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Konjunktiv von „sein“

Die Sogkraft der Bilder, die dann mitgenommen werden in einen unruhigen, kurzen Schlaf, ist groß. Wie eine Droge, die hypnotisiert. Live-Ticker, Sondersendungen, ratlose Moderatoren, die Fragen stellen müssen, auf die die Befragten keine Antworten haben: Vor allem die Fernsehanstalten müssen länger senden, als es Neues zu berichten gibt. Das ist nicht ihre Schuld. Vorsichtig sind sie diesmal, wollen keine Mutmaßungen oder Gerüchte transportieren. Jedenfalls versichern sie das, immer wieder. Bei CNN geschieht ein kleines Wunder. Ein Augenzeuge will aus Respekt vor den Opfern partout nicht schildern, was er gesehen hat. Da fühlt jemand in all dem Wahnsinn, dass es Anstand zu bewahren gilt. Dass die Würde des Menschen nicht nur ein Konjunktiv von „sein“ ist.

Natürlich lässt sich auf Deutungen nicht ewig verzichten. Heute Gefühl, ab morgen wieder Politik: Das scheint die Regel im Umgang mit dem Terror zu sein. Heute Kerzen, ab morgen wieder Schuldzuweisungen. Heute Andachten, ab morgen wieder Talkshows. Es geht alles so schnell. „Und Stille gibt es, da die Erde krachte, kein Wort, das traf, man spricht nur aus dem Schlaf“: So dichtete Karl Kraus.

Aber Stille ist unmedial. Privat. Enthält keine Botschaft. Ein Luxus. Wer nicht will, dass jene das letzte Wort haben, die es ohnehin stets für sich reklamieren, muss mitreden, ein Teil der Kakophonie werden. Also wieder eintauchen in die Routine der Politanalysten und Forderungserheber. Wer sich dem Deutungsentzug hingibt, überlässt das Feld den anderen.

Mindestens zwölf Menschen wurden ermordet, fünf Tage vor Weihnachten, dem Fest der Liebe und des Friedens. Innehalten ist das Gebot der Stunde. Und sei es nur für einen kurzen, verdammten Moment.

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