Recovery-Plan der EU: Das Geld fällt nicht vom Himmel – jemand muss zahlen
Die von Corona stark betroffenen EU-Partner verdienen Hilfe, besonders von Deutschland. Aber bitte ohne Verschleierung der Geldflüsse. Ein Kommentar.
Darf man für einen guten Zweck schwindeln? Und wie weit kann man die Wahrheit wohlmeinend dehnen, bevor die so genannten „weißen Lügen“ das Ziel beschädigen?
Die europäische Integration dient vielen guten Zwecken, darunter dem friedlichen Interessenausgleich einst verfeindeter Staaten und dem Ausbau der EU zu einer globalen Macht, die den USA und China auf Augenhöhe begegnen kann.
Doch die reale EU ist nicht so demokratisch, solidarisch, rechtstreu und effektiv, wie ihre Fürsprecher behaupten. Sie ist ein Bund von Nationalstaaten, die eigene Interessen haben und sie oft egoistisch vertreten.
In aller Schärfe stellt sich die Frage nach Kosten und Nutzen des Beschwindelns der Bürger, wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an diesem Mittwoch den „Recovery Plan“ für die Wiederaufbauhilfe nach der Coronakrise vorstellt. Er geht über den Macron-Merkel-Vorstoß hinaus.
Die Anhänger einer zügigen Integration wollen die Krise für einen Sprung nach vorn nutzen. Und die Finanzverfassung Europas revolutionieren – leider erneut durch eine kreative Konstruktion nahe am Rechtsbruch, wie sie das Bundesverfassungsgericht kürzlich im EZB-Urteil bemängelt hat. Die Kommission möchte die Aufbauhilfe eng mit dem EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre verknüpfen, der jetzt ebenfalls beschlossen werden muss. Und dieses Budget drastisch ausweiten.
Megasummen aus Krediten, weil der EU-Haushalt nicht reicht
In den nächsten zwei Jahren will sie Riesensummen als Konjunkturhilfe an ihre Mitglieder ausreichen, wie sie bisher für die EU undenkbar waren. Diese rasch benötigten Mittel will sie als Kredite aufnehmen und über die nächsten zwanzig Jahre aus dem EU-Haushalt zurückzahlen.
Der Vorteil: In normalen Zeiten kann die EU nur Geld ausgeben, das sie zuvor von den Mitgliedstaaten entsprechend deren Anteil am BIP, der Wirtschaftskraft der EU, erhalten hat. Jetzt sind die EU-Staaten wegen der Krise knapp bei Kasse und können drastisch steigende Finanzierungsanteile am EU-Budget gar nicht aufbringen. Deshalb der Megakredit.
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Das führt mitten hinein in die Schwindeleien. Die EU tut so, als regne es Geld vom Himmel, das erst mal niemanden etwas kostet. Wer dafür gerade stehen muss, wird gezielt verschleiert. Es sind die EU-Staaten, die jetzt angeblich geschont werden.
Der Eindruck der Irreführung verstärkt sich durch zwei erbitterte Debatten, die Europa seit Wochen entzweien. Italien und andere Südstaaten sagen, sie seien stärker durch Corona betroffen als andere, bräuchten also mehr Hilfe. Und diese Hilfe benötigten sie nicht als Kredite, sondern als verlorene Zuschüsse, da sie ja bereits so hoch verschuldet seien, dass sie keine weiteren Kredite aufnehmen können, um eine nationale Aufbauhilfe zu finanzieren.
Da liegt zugleich der zentrale Streitpunkt im „Recovery Plan“: Werden die EU-Hilfen als Zuschüsse oder Darlehen oder in einer Kombination ausgezahlt – und werden sie an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel, dass Länder wie Italien ihre Finanzen in Ordnung bringen müssen? Die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden sind als angeblich „geizige Vier“ gegen Zuschüsse und für Bedingungen.
Die Art der Debatte ignoriert die Rechtslage, die europäischen Verträge und das Wesen von Krediten. Geld fällt nicht vom Himmel. Wer Darlehen aufnimmt, muss Sicherheiten geben. Die EU kann das nicht, sie darf es nicht. Die Rückzahlung garantieren die EU-Staaten, entsprechend ihrem Anteil am BIP der EU. Auf Italien entfallen im aktuellen EU-Haushalt 14 Prozent.
Es ist also keineswegs so, dass die EU einen Weg gefunden hat, wie Italien (oder andere) von Aufbauhilfe profitieren, ohne dass sich ihre finanziellen Verpflichtungen erhöhen. Sie müssen Kredite, die die EU im Namen aller aufnimmt, anteilig zurückzahlen.
Kann Italien überhaupt Nutzen aus der Konstruktion ziehen? Ja, aber einen weit geringeren, als suggeriert wird. Und auch nur unter bestimmten Annahmen, die nicht eintreffen müssen. Erstmal erhält Italien rasch viel Geld, das es erst später zurückzahlen muss. Dieser Effekt wäre freilich auch erreicht, wenn Italien nationale Kredite bekäme, die es über 20 Jahre abzahlt. Das lehnt Rom jedoch ab.
Warum sollen ärmere EU-Staaten Italien stützen?
Zweitens enthält die Verknüpfung des mehrjährigen „Recovey Plans“ mit dem EU-Haushalt Variable. Erhält Italien mehr Geld aus dem Recovery-Plan als es zurückzahlen muss, macht es einen Schnitt. Es ist freilich unwahrscheinlich, dass der hoch ausfällt. Über die Vergabe der Mittel müssen sich alle einigen. Italien geht es generell besser als dem Durchschnitt der EU. Es ist ein Nettozahler. Warum sollen die Ärmeren zustimmen, dass Italien überproportional viel erhält?
Eine andere Variable ist die Wirtschaftsentwicklung über die 20 Jahre Rückzahlung des EU-Kredits. Fällt Italien wegen Corona ökonomisch zurück und hat in den folgenden sieben Jahren EU-Budget nur noch 12 Prozent Anteil am EU-BIP, müsste es nur 12 statt 14 Prozent des EU-Kredits bedienen. Und andere zahlen mehr. Gewinnt Italien dank EU-Recovery an Wirtschaftskraft – sagen wir auf 15 Prozent der EU -, müsste es 15 Prozent des EU-Darlehens zurückzahlen.
Deutschland soll solidarisch sein - aber redlich
Dieser atmende Mechanismus bei der Rückzahlung ist vernünftig. Generell ist es gut, dass die EU einen Ausgleich für die Belastung durch Corona über ihre Kassen plant. Und drei Mal richtig ist, dass Deutschland als Staat, der am meisten vom EU-Binnenmarkt profitiert, für diese EU-Hilfe eintritt und sie überproportional finanziert.
Aber ginge das nicht ehrlicher, ohne die „weißen Lügen“? Für die EU-Finanzen haften die Nationalstaaten. So ist die Lage. Und Italien gehört trotz Krise zu den Nettozahlern.
Durch redliche Solidarität kann die Zustimmung zur EU wachsen – durch Beschwindeln der EU-Bürger kann sie Schaden nehmen.