Bodo Ramelow über Aktionen von Coronaleugnern: „Das geht in Richtung Terrorismus“
Warum Thüringens Ministerpräsident Ramelow mit dem bei Merkel erzielten Kompromiss nicht zufrieden ist - und Corona-Rebellen ihm Angst machen. Ein Interview.
Bodo Ramelow (64) ist - mit einer kurzen Unterbrechung - seit Dezember 2014 Ministerpräsident in Thüringen. Der frühere Gewerkschaftsfunktionär und Linken-Politiker führt aktuell eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung. Voraussichtlich im April 2021 finden vorgezogene Neuwahlen des Landtages statt, bei denen Ramelow erneut kandidieren will.
Herr Ramelow, der Widerstand gegen staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wächst: Coronaleugner vernetzen sich mit Rechtsradikalen, Reichsbürger mit sogenannten Querdenkern, Impfgegnern. Wie gefährlich ist das?
Es ist eine sehr gefährliche Mischung. Ich habe in den sozialen Medien gesehen, dass Leute am Wochenende in Berlin in eine S-Bahn reingehen, filmen, Leute zwingen, die Masken abzunehmen, brüllen, und das obwohl es eine Maskenpflicht in den Zügen gibt.
Da wird nicht einmal Rücksicht auf Kinder genommen. Da wird einfach gnadenlos vorgegangen. Das eingebettet in die Vorgänge auf der Berliner Museumsinsel - dass man sagt, der Pergamon-Altar sei der Hexensabbat – das erinnert schon stark an die Zeiten der Pest.
Die Vorgänge laufen anders ab als im Mittelalter, aber sind vergleichbar?
Im gewissen Sinne, durchaus. Irrationalismus bricht sich Bahn. Kunstschätze werden vorsätzlich beschädigt. In Kommentaren im Netz werden Brandanschläge auf das Robert-Koch-Institut angedroht. Demonstranten tragen große Fotos mit Frau Merkel und Herrn Drosten in KZ-Kleidung, skandieren, dass man die Kanzlerin an die Laterne knüpfen müsse. Das sind Vorgänge, die gehen in Richtung Terrorismus.
Das ist eine Gefährdung der inneren Verhältnisse in unserem Land. Da geht es auch nicht darum, ob sich jemand nicht impfen lassen will. Es gibt keine Impfpflicht. Impfgegner werden zusammengebracht mit Coronaleugnern und es wird behauptet, Bill Gates wolle uns jetzt zwangsimpfen. Ich beobachte in diesen ganzen Vernetzungen und Verschwörungsmythen pogromartige Stimmungen. Offenkundig ist ein Teil unserer Gesellschaft gerade auf dem Weg dahin.
Auch Journalisten werden bedroht.
Ich habe den Tweet gesehen, laut dem Ihr Tagesspiegel-Kollege angegriffen wird, der am Wochenende über die Corona-Proteste in Berlin berichtete. Für mich ist so etwas vergleichbar mit dem, was Walter Lübcke, dem Regierungspräsidenten in Kassel, passiert ist.
Der hat in der Flüchtlingskrise eine klare Position bezogen und hat das mit seinem Leben bezahlen müssen. Wenn Bilder von Kollegen von Ihnen erscheinen mit einem Kreuz, also quasi zum Abschuss freigegeben, dann wird das extrem gefährlich für unsere Gesellschaft.
Es geht um den Infektionsschutz, ja, aber auch um den Schutz unserer Gesellschaft. Es darf nicht sein, dass derjenige, der am lautesten im Internet brüllt, das Kommando vorgibt. Und dann der Einzelne sich aufgefordert fühlt zu handeln.
Das ist dann nichts anderes als die islamistischen Einzeltäter, die denken, sie seien göttlich berührt, wenn sie einen Lehrer in Frankreich umbringen, der bloß - anhand von Mohammed-Karikaturen - über Meinungsfreiheit redet.
Sind Sie zufrieden mit den Kompromissen zur Bekämpfung der Pandemie, die auf der Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch mit der Kanzlerin erzielt wurden?
Zufrieden ist der falsche Begriff. Wir haben ein Infektionsgeschehen in den letzten 48 Stunden in Thüringen, das mich unruhig macht. Darauf mit einschränkenden Maßnahmen zu reagieren, ist besser als auf ein noch größeres Ausmaß an Infektionen und Erkrankungen nicht mehr reagieren zu können.
Wir müssen diese Verantwortung tragen, auch wenn es schwerfällt. Wir schränken Menschen ein - sowas ist nie schön. Aber wenn es gelingt, die Welle jetzt zu brechen, dann weiß ich, warum mir die vergangenen Tage so schwer gefallen sind.
Jetzt kommt im November doch ein Teil-Lockdown, den Sie ursprünglich nicht wollten.
Es mag manches für bundeseinheitliche Regeln sprechen. Andererseits: Ich denke, wir haben soviel beim ersten Lockdown gelernt, und wir haben auch viel über das Virus gelernt, dass wir in der Lage sind, mit angemessenen Maßnahmen und einer genau gesteuerten Nachverfolgung die Infektionswege zu unterbrechen.
Trotzdem braucht es jetzt eine Art Wellenbrecher angesichts der rasant gestiegenen Infektionszahlen. In Thüringen probieren wir das Ampelsystem in Schulen und Kindergärten seit dem ersten Tag nach den Sommerferien aus und haben gute Erfahrungen damit gesammelt. Das heißt, immer dann, wenn etwas passiert, wird gehandelt.
Ein einzelner infizierter Schüler wird sofort aus dem Unterricht herausgenommen. Erst wenn drei nicht miteinander verbundene Infektionsfälle eintreten, wird die Schule oder der Kindergarten vorübergehend geschlossen.
Jena hatte Anfang April als erste Kommune bundesweit eine Maskenpflicht eingeführt. Umgekehrt gibt es den Eindruck, dass Sie als Ministerpräsident in Thüringen Regeln immer so spät verschärft haben wie irgend möglich. Wie passt das zusammen?
Es geht mir nicht um verschärfen oder nicht verschärfen. Es muss angemessen sein. Wir leben in einem Verfassungsstaat, in dem bestimmte Grundrechte garantiert sind. Dazu gehört auch der Schutz von Leib und Leben - konkret also jetzt bei den Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus.
Aber wenn es notwendig wäre, müsste auch stärker eingegriffen werden und sicherlich auch von Quarantäne bis zur Isolation von Infektionsherden alles angewendet werden, was angemessen und hilfreich ist. Dazu gehört aber auch, dass die Angemessenheit gewährleistet sein muss. Die eine oder andere Maßnahme hat dem nicht entsprochen.
Stichwort: Beherbergungsverbot.
Genau. Es ließ sich eben nicht belegen, dass Übernachtungen in Hotels oder Ferienwohnungen zur Ausbreitung des Virus beitragen. Alles, was gemacht werden muss, um Infektionsgeschehen zu unterbinden, das muss gemacht werden. Auch Gerichte akzeptieren unter dieser Voraussetzung, wenn eingegriffen wird in Grundrechte von Menschen, die beispielsweise Gewerbefreiheit haben, das Demonstrationsrecht ausüben.
Das darf auch nicht alles nur von der Verwaltung permanent in Verordnungen geregelt werden. Wenn Gefahr in Verzug ist, handele ich als Ministerpräsident - so wie meine Amtskollegen auch. Aber wir brauchen jetzt auch eine gemeinsame Übereinkunft mit den Parlamenten. Ich begrüße es, dass die Parlamente sich deutlicher in die Debatte einmischen.
Extrem unterschiedliche Regelungen von Stadt zu Stadt, von Landkreis zu Landkreis, von Bundesland zu Bundesland, widersprüchliche Entscheidungen von Gerichten - kommen die Bürgerinnen und Bürger noch mit?
Es darf nicht um das Überbieten von irgendwelchen Maßnahmen gehen. Dem Wettbewerb, in den wir auch gebracht worden sind, müssen wir uns als Politiker widersetzen. Aber es wird richtig bleiben, dass es in der Gemeinde A andere Maßnahmen geben kann als in der Gemeinde B. Wenn es in einer Gemeinde ein Infektionsgeschehen gibt, das nicht mehr steuerbar ist, kann es bis zur Quarantäneanordnung für die gesamte Gemeinde gehen, also zur Isolation.
Sind Sie ein wenig schadenfroh gegenüber Markus Söder, der immer immer wieder mit dem Finger auf andere zeigte und nun auch in Bayern mehrere Landkreise mit einer Inzidenzrate von mehr als 100 hat?
Überhaupt nicht. Weil der Schaden, den die Bürger in unserem ganzen Land gerade erleben, immens ist. Wenn Weihnachtsmärkte - egal ob nun der Christkindlesmarkt in Nürnberg oder der Markt in Erfurt - nicht stattfinden, tut mir das sehr weh.
Weil ich einfach weiß, dass die Händler und die Beschäftigten auf diesen Weihnachtsmärkten ihren gesamten höchsten Jahresumsatz verlieren. Andererseits muss ich sagen: Wir sind auch nicht in der Lage, zwei Millionen Gäste in einer Situation begrüßen zu können, wenn ein breites Ausbruchsgeschehen wie gerade in Erfurt stattfindet.
Insofern es ist hier berechtigt, dass der Oberbürgermeister uns zwingt, auch in der Stadt die Maske zu tragen, und nicht nur in öffentlichen Verkehrsmitteln, Geschäften und anderen Gebäuden.
Werden die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auch richtig vermittelt? In einem Gymnasium im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf wird Schülern, die keine Maske tragen wollen, mit dem Ausschluss vom Unterricht bzw. Prüfungen, Note sechs und polizeilichen Anzeigen gedroht. Mancher fühlt sich dann an diktatorische Zustände erinnert.
Ich kenne die Vorgeschichte in Berlin nicht. Ich kenne einen Fall aus Thüringen, wo ein amtierender Schulleiter und seine Familie massiv bedroht worden sind, weil er überfreundlich darum gebeten hat, die Hausregeln einzuhalten.
Er hat weder gedroht noch Konsequenzen angekündigt. Trotzdem ist die Lage an seiner Schule eskaliert. Schüler haben bewusst die Maske abgezogen, nach dem Motto „Du hast mir gar nichts zu sagen“. Es ist dann schon die Frage, wie setzt man Hausrecht durch, um die anderen Schülerinnen und Schüler zu schützen, die Lehrerinnen und Lehrer zu schützen, den Schulfrieden aufrechtzuerhalten.
Eltern kamen und maßten sich an, diesen Lehrer und seine Familie an den Pranger zu stellen. Vorgefertigte Briefe wurden verschickt, von denselben Leuten, die früher gesagt haben, die Schule erziehe nicht genug. Haarsträubend. Manchmal wundert man sich, was erwachsene Menschen alles glauben. Aber solcher Nonsens überträgt sich auf die Kinder, die dann ihren Lehrern widersprechen, ihnen keinen Respekt mehr zollen. Das hat mit Diskurs nichts mehr zu tun.
Anderes Thema: In Gera ist eine AfD-Politiker zum Vorsitzenden des Stadtrats gewählt worden. Wird die rechtsradikale Partei ausgerechnet in Thüringen, wo sie von Björn Höcke angeführt wird, salonfähig?
Ich sehe nicht die Salonfähigkeit. Sondern ich sehe, dass unsere parlamentarischen Regeln an ihre Grenzen stoßen, auch die ungeschriebenen. Ich habe ja selbst einen AfD-Politiker mitgewählt zum Landtagsvizepräsidenten.
Was Ihnen sehr viel Ärger eingebracht hat. Warum Ihr Schritt dann überhaupt?
Ich habe meine Stimme als Abgeordneter diesem Herrn nicht aus Überzeugung geben, sondern aus einer Erpressungssituation heraus. Die AfD hatte angekündigt, sie würde im Richterwahlausschuss keine Beisitzer benennen.
Sie hätte damit verhindert, dass wir in Thüringen weiterhin keine neuen Richter und Staatsanwälte berufen können. Ich bin völlig unverdächtig, dass ich der AfD nahe stehe, sie verharmlose oder gar gesellschaftsfähig machen möchte. Im Gegenteil: Diese AfD ist, wie ich finde, eine Partei, die sich zu Recht im Prüfverfahren des Verfassungsschutzes befindet.
Die Linke will - auch wenn der Parteitag am kommenden Wochenende wegen des Infektionsgeschehens verschoben wurde - demnächst eine neue Parteiführung wählen, mit der hessischen Fraktionschefin Janine Wissler und der thüringischen Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow an der Spitze. Wird Rot-Rot-Grün auch im Bund so eher möglich?
Meines Erachtens ja. Diese neue Spitze wird dafür sorgen, dass wir einen neuen Schwung in unsere Partei bekommen und damit auch mehr Gewicht. Ich unterstütze diese weibliche Doppelspitze ausdrücklich. Es ist spannend für unsere Partei, dass nun beide Seiten vertreten sind, diejenigen, die Politik über die Opposition definieren, und diejenigen, die das Verändern über Regierungsarbeit tun.
Zwei starke Frauen, die beide Positionen zusammenbringen und gut miteinander arbeiten können. Ich sehe eine neue Kraft für uns und finde es toll, dass es zwei Frauen sind. Es liegt eine Chance darin, dass sich die Partei neu aufstellt, ohne ihre großen Schatten, das heißt auch ohne zum Beispiel einen Gysi oder einen Ramelow.
Ausgerechnet jetzt sagt die frühere Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, die Linke und auch die SPD seien zu Akademikerparteien geworden. Die Linke würde sich nicht mehr um soziale Ungleichheit, niedrige Renten etc. kümmern, dafür aber über Gendersternchen diskutieren. Ist da etwas dran?
Ginge es nur um eine reine parlamentarische Betrachtung, dann könnte ich eine solche Kritik verstehen. Es gibt ja Gründe, warum ich aus Berlin weggegangen bin, wo sich rund um die Schmusekugel Reichstag alle im eigenen Dunstkreis bewegt haben.
Da wissen tatsächlich viele nicht mehr, wie es einer prekär Beschäftigten in einem Discounter geht. Ich teile allerdings nicht die von Sahra Wagenknecht vorgenommene Verallgemeinerung. Ich bewundere die Fähigkeit von Sahra, Lektüre aufzusaugen, wie sie Wissen akkumuliert.
Ich bin im Unterschied dazu der praktische Politiker, der jeden Tag in Thüringen auch beweisen muss, ob er noch ein Gefühl dafür hat, wie es den Menschen geht, denen es nicht so gut geht. Und ich habe noch ein Gefühl dafür. Im Gegensatz zu Frau Wagenknecht bin ich einer der wenigen, der kein Akademiker ist.