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Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) mischt sich weiter ein, hier bei einer Debatte am 30. Jahrestag des Mauerfalls in der Berliner U-Bahn
© Stefan Weger

Debatte über Lebensschutz in der Corona-Krise: „Das führt zu Selektion zwischen mehr oder weniger lebenswertem Leben“

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse kritisiert die aktuelle Kosten-Nutzen-Debatte scharf. Er sorgt sich, dass sich weiterer Widerstand zusammenbraut.

Herr Thierse, fürchten Sie ein Kippen der Stimmung in der Corona-Krise?
Nach acht Wochen bedrängender Pandemie-Erfahrung haben wir jetzt plötzlich eine Diskussion über den Wert des menschlichen Lebens, von Wolfgang Schäuble eröffnet und von dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer radikalisiert. Bisher galt - nach der moralischen Katastrophe der Nazi-Ideologie vom "unwerten Leben"  - der Schutz des Lebens für alle Menschen gleichermaßen. Menschenleben gegeneinander abzuwägen, das galt, dank Immanuel Kant, in unserem Rechtsstaat als nicht legitim.

Der Grünen-Politiker Palmer meint, den Aufwand für die Gesundheit der Alten, der größten "Risikogruppe" also, infrage stellen zu dürfen und zu sollen. Menschenleben mit geringerer Lebenserwartung, so ist Palmer ja zu verstehen, hat geringeren Wert als solches mit höherer Lebenserwartung. Soll ich das nun für den Ausdruck einer vielleicht erwägenswerten utilitaristischen Ethik halten oder doch eher für darwinistischen Neoliberalismus.

Das Grundgesetz spricht da eine andere Sprache…
Ja. Der Grundwert der Menschenwürde gilt für alle Menschen gleichermaßen. Die elementarste Voraussetzung dafür aber ist das Recht auf Leben. Denn Menschenwürde kann nur haben, wer das Recht auf Leben erfahren hat und erfährt - egal ob jung oder alt, gesund oder krank, risikoarm oder risikoreich.

Das Grundgesetz formuliert in seinen Artikeln 1 und 2 nicht ein Gegeneinander, wie Schäuble es nahelegt, sondern einen Zusammenhang. Ihn aufzulösen, halte ich für gefährlich. Führt dies doch zu Unterscheidungen, zu "Selektion" zwischen mehr oder weniger lebenswertem, also schützenswertem Leben. Das darf dem Staat nicht zustehen, gerade auch weil seine Handlungs- und Schutzmöglichkeiten begrenzt sind und bleiben.

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Aber der Staat könne nicht jedes Leben schützen, wird von vielen in der Debatte betont, sonst müsste die Regierung im Kampf gegen das Virus praktisch alle Bürger zu Hause einschließen lassen,. Verstehen Sie nicht die Sorgen der vielen von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen?
Schutz des Lebens bedeutet: Wir schützen nichts abstraktes. Gesundheit ist eines der Kriterien für die Qualität des Lebens, andere sind natürlich Kommunikation, Begegnungen, ausreichende ökonomische und soziale Sicherheit. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die wachsende Ungeduld für Lockerungen, halte aber trotzdem den Überbietungswettbewerb in Besserwisserei und die Forderungen an die Politik für problematisch.

Warum?
Je mehr Politiker unter Druck gesetzt werden, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie Fehler machen. Und man muss wissen, Politiker und Journalisten sind nicht die besseren Ärzte und Wissenschaftler. Es macht mir Angst, dass die Situation politisch instrumentalisiert wird, von Rechtsextremen, von Verschwörungstheoretikern, aber auch von Linksradikalen, die meinen, vor einem Überwachungsstaat warnen zu müssen. Dagegen hilft nur, die Einschränkungen in ihrer zeitlichen Dimension und ihrer Verhältnismäßigkeit auf überzeugende Weise einsichtig zu machen. Und es muss Gerechtigkeit herrschen bei der Verteilung der unvermeidlichen Belastungen.
Wolfgang Thierse war Teil der DDR-Bürgerrechtsbewegung, 1990 wurde er zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei der DDR gewählt. Von 1998 bis 2005 war er Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 Vizepräsident. Er macht sich angesichts der Debatten in der Corona-Krise Sorgen - und kritisiert den heutigen Amtsinhaber Wolfgang Schäuble (CDU), der durch Aussagen in einem Tagesspiegel-Interview eine Debatte angestoßen hat, ob der Schutz des Lebens über allem andere steht.

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