Europäischer Gerichtshof: Das Dublin-Abkommen wackelt
Ein Gutachten für den Europäischen Gerichtshof stellt die Asylpraxis der EU infrage. Es vertritt die Position, dass Ausnahmen zulässig seien.
Die beiden Fälle, über die der EuGH am 26. Juli zu entscheiden hat, betreffen einen syrischen Flüchtling sowie zwei afghanische Frauen. Sie waren 2015 zusammen mit einer Million weiteren Flüchtlingen, Vertriebenen und Migranten über die sogenannte Balkanroute nach Europa gelangt. Der Syrer hatte in Slowenien ein Asylgesuch gestellt, die beiden Afghaninnen in Österreich. Beide Länder lehnten die Anträge ab. Die Flüchtlinge seien nicht bei ihnen in die EU eingereist, sondern über Griechenland und Kroatien, hieß es zur Begründung. Laut dem Dublin-Abkommen sei aber derjenige EU-Staat für die Aufnahme und das Asylverfahren zuständig, in welchem der Antragsteller erstmals europäischen Boden betrete.
Es könnte sein, dass das nicht mehr lange gilt. Denn die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, die Britin Eleanor Sharpston, vertritt in einem Gutachten die Position, dass Ausnahmen von der gemeinsamen EU-Asylpraxis zulässig seien. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn Länder mit einer EU-Außengrenze mit „außergewöhnlich hohen Zahlen von Asylbewerbern“ konfrontiert seien. Dann bestehe nämlich das Risiko, dass sie nicht in der Lage seien, die Situation zu bewältigen und ihre Verpflichtungen bei Aufnahme und Versorgung einzuhalten. Griechenland und Kroatien hätten während der Flüchtlingswelle über den Balkan unmöglich alle Fälle der Ankommenden allein prüfen können, betont Sharpston in ihrem Gutachten.
Die Generalanwältin legt ihren Finger noch auf einen weiteren wunden Punkt: „Dublin“ regelt nur die Zuständigkeiten für illegal eingereiste Flüchtlinge und Migranten. Der „Massenzustrom von Drittstaatenangehörigen“, den Europa im Jahr 2015 auf der Balkanroute erlebt habe, könne aber nicht als illegaler Grenzübertritt bewertet werden. Mehrere EU- Mitgliedstaaten hätten die Ein- und Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet nicht nur erlaubt, sondern zum Teil aktiv erleichtert. Der Syrer und die Afghaninnen seien zwar nicht wirklich legal, aber auch nicht illegal in die EU eingereist, betont Sharpston. Die Dublin-Verordnung sei „schlicht nicht für solche außergewöhnlichen Umstände gedacht gewesen“.
Das Dublin-Ziel war, "Asyl-Tourismus" zu verhindern
Zuständig für die Aufnahme und das Asylverfahren wäre nach Ansicht der Generalanwältin in derartigen Situationen nicht das Land, in welchem der Antragsteller ankam, sondern das Land, in dem er erstmals einen Asylantrag stellt. Sollten die Europa-Richter dieser Argumentation folgen, würde also das zentrale Dublin-Prinzip außer Kraft gesetzt. Doch Sharpston ist überzeugt: In Situationen wie 2015 würde eine enge Auslegung von „Dublin“ von vornherein die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU festlegen. Darauf ziele das Abkommen jedoch nicht ab.
In der Tat bestand das wichtigste Ziel der Dublin-Verordnung darin, den „Asyl-Tourismus“, das Stellen von Anträgen in mehreren Ländern zu unterbinden. Stattdessen wird Dublin heute vor allem dazu benutzt, den Mittelmeeranrainern der Europäischen Union die gesamten Flüchtlings- und Migrationsströme aus dem Nahen Osten und Afrika aufzubürden.
Mit großer Hoffnung blickt vor allem Italien dem EuGH-Urteil entgegen. Seit der Schließung der Balkanroute ist Italien wieder das Land, in dem mit Abstand die meisten Flüchtlinge und Migranten ankommen. 170.000 waren es im vergangenen Jahr, 2017 wird mit mit 200.000 oder mehr gerechnet. Die italienische Regierung hat deshalb eine Stellungnahme an den EuGH geschickt, in welcher die Argumentation von Generalanwältin Sharpston um einige spezifisch italienische Argumente erweitert wird.
Die Regierung in Rom konzentriert sich dabei insbesondere auf die „illegale Einreise“. Sie betont, die Flüchtlinge und Migranten, die im Rahmen der humanitären Operationen der italienischen Küstenwache und der Marine vor dem sicheren Tod gerettet werden, könnten ebenfalls nicht als illegal eingereiste Personen eingestuft werden. Auch sie würden damit nicht vom Dublin-Abkommen erfasst. Dass die Flüchtlinge sicher an Land gebracht würden, sei letztlich „eine Verpflichtung aus der Genfer Menschenrechtskonvention“.