Diesel-Affäre: Das Autoland Deutschland muss sich dringend emanzipieren
Nicht nur die Diesel-Besitzer müssen entschädigt werden, sondern alle Opfer des Betrugsskandals. Ein Kommentar.
Bis tief in die Nacht, wie es in diesen Fällen so schön heißt, saßen die Spitzen der Koalition jüngst beim Diesel-Gipfel beisammen. Jetzt geht es wirklich um etwas, soll das heißen. Die Lage ist so ernst, dass die Regierungsriege auf ihren Schlaf verzichtet. Denn schließlich haben Millionen Diesel-Fahrer große Sorgen. Wir haben verstanden – das ist die Botschaft der Regierung. Aber hat sie das überhaupt?
Es ist nämlich viel zu wenig, sich immer nur um die Sorgen der Diesel-Fahrer zu kümmern, um die Handwerker, die in die Städte müssen, die Kunden, die guten Glaubens viel Geld in ihr Auto investierten. Die mindestens genauso wichtige Frage ist: Wer entschädigt eigentlich die Millionen Bürger im Land, die keinen Diesel fahren? Wo bleibt das Maßnahmenpaket für die Menschen, die in den Innenstädten an großen Verkehrsstraßen wohnen? Sie atmen tagein, jahraus Stickoxide ein, und zwar viel mehr, als technisch nötig wäre – weil die Autohersteller über eine lange Zeit hinweg systematisch und mit großer krimineller Energie betrogen haben. Nicht nur ihre Kunden, sondern die gesamte Gesellschaft. Stark zugespitzt könnte man sagen: Organisierte Kriminalität ist normalerweise ein Fall für die Staatsanwaltschaft, nur, wenn vier Reifen drunter sind und es hinten stinkt, dann ist das Kanzleramt zuständig.
Wut und Kummer der Käufer sind absolut berechtigt
Stickoxide schädigen Atemwege und Herz. Für Menschen mit Asthma oder anderen Lungenkrankheiten, für Allergiker, kleine Kinder, alte Menschen sind sie besonders gefährlich. Es lässt sich nicht zweifelsfrei beziffern, wie viele Menschen wegen Diesel-Abgasen früher sterben. Aber klar ist: Die gesundheitlichen Schäden für die Bevölkerung als Ganzes sind groß. In einer im Magazin „Nature“ veröffentlichten Studie zeigten Wissenschaftler in Modellberechnungen auf, dass weltweit 38.000 Menschen weniger frühzeitig sterben würden, wenn die Automobile die gesetzlichen Grenzwerte einhalten würden.
In der EU sind die abgasmanipulierten Autos demnach für 11.400 Tote verantwortlich. Auf einen Krisen-Gipfel dazu warten die Bürger bisher aber vergebens. Dabei müssten ihre Anliegen auf der politischen Agenda ganz weit oben stehen. Es wäre höchste Zeit, dass die Bundesregierung nicht nur immer so viel für bessere Luft tut, wie sie bei der Autoindustrie mit höflichem Bitten durchzusetzen vermag.
Falsch wäre es allerdings auch, Diesel-Fahrer gegen alle anderen Betroffenen auszuspielen. Denn natürlich sind Wut und Kummer der Käufer absolut berechtigt. Man muss nicht einmal aus beruflichen Gründen auf sein Auto angewiesen sein, um den Betrug und die wirtschaftliche Schädigung der Kunden als bodenlose Unverfrorenheit zu empfinden. Dass die Auto-Industrie mit dieser Unverfrorenheit fortwährend durchkommt, ist letztlich unglaublich.
Jobs, Jobs, Jobs, das ist die jahrzehntealte Erklärung für diese Vorzugsbehandlung. Sie gilt noch immer, und das zeigt, dass sich das Autoland Deutschland dringend von jenen emanzipieren muss, die die Gesellschaft verpestet und für dumm verkauft haben. Sich politisch um alle Opfer des Diesel-Skandals gleichermaßen zu kümmern wäre ein guter Anfang.
Karin Christmann