Zeitgeschichte: Forschender Blick nach rechts
Woher kommt die AfD? Zeithistoriker wollen sich der jüngeren Geschichte der Gruppen und Parteien am rechten Rand zuwenden.
Seit dem Herbst 2017 stellt mit der AfD eine in Teilen rechtsextreme Partei die größte Oppositionsfraktion im deutschen Bundestag. Seit dem Herbst 2018 ist die gleiche Partei in allen Landtagen vertreten, neun von 16 Mal mit zweistelligem Wahlergebnis. Im Herbst 2019 nun könnten die von rassistischen und revisionistischen Hardlinern dominierten Landesverbände von Brandenburg, Thüringen und Sachsen der AfD drei Siege bei den Landtagswahlen sichern.
Der Einzug der parteipolitischen Rechten in die Parlamente wird von einer Verrohung des Diskurses und einer gestiegenen Anzahl rassistischer und rechtsextremer Gewalttaten begleitet. Der rechte Rand ist kein Randproblem mehr und dringt in die gesellschaftliche Mitte vor. Die zunehmenden Landgewinne demokratiefeindlicher Kräfte erscheinen als klare Zäsur. In Wissenschaft und Medien hat die rechte Renaissance nicht selten Vergleiche zu „Weimar“ und dem katastrophalen Scheitern der ersten deutschen Republik provoziert.
Mitten in der vierten Welle rechter Parteien nach 1945
Aber muss man den vergleichenden Blick überhaupt so weit zurückwenden? Haben Pegida, AfD und Konsorten und die von ihnen ausgehende Hetze nicht auch eine bundesdeutsche Vorgeschichte – und eine in der DDR? Bei einem Workshop am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam versuchten sich Zeithistoriker und Zeithistorikerinnen nun an einer Art Bestandsaufnahme. Sie wollen ein langfristig angelegtes Netzwerk zur Rechtsextremismusforschung gründen. Man wolle sich stärker auf die Rechten aus Gegenwart und jüngerer Vergangenheit konzentrieren, die von der Forschung bislang vernachlässigt wurden, sagt Yves Müller, Zeithistoriker an der Uni Hamburg.
Mit der „Alternative für Deutschland“ sei bereits die vierte Welle äußerst rechter Parteien und eines „rechtsextremen Agenda-Settings“ auf mehreren politischen Feldern im Gange, erklärt Frank Bösch vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, der die Netzwerk-Initiative unterstützt. Nach der 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei (SRP), der in den 60er-Jahren höchst erfolgreichen NPD und den von ehemaligen CSU-Mitgliedern gegründeten Republikanern in den 80er-Jahren hat sich seit 2015 nun also eine weitere Partei erfolgreich rechts der Union etabliert.
Sowohl was die Umstände ihres Entstehens als auch was ihre Inhalte angeht, gebe es bei den äußerst rechten Parteien sehr viele Gemeinsamkeiten, sagt Bösch. Neben einem übersteigerten Nationalismus und der Idee einer autoritären Staatsordnung sei die Vorstellung von ethnischer Homogenität ein prägendes Kriterium. „Schon die NPD greift in den 60er-Jahren intensiv das Thema der Gastarbeiter auf. Die Republikaner profilieren sich Anfang der 80er-Jahre im Zuge einer neuen Asyl-Debatte, nachdem die Flüchtlingszahlen seit den 70er-Jahren in die Höhe gingen“, sagt Bösch. Für die AfD nun sei die verstärkte Migration bekanntlich das Thema, das sie groß gemacht habe.
Angst vor dem Niedergang alter Identitätsmodelle
Eine weitere Gemeinsamkeit der äußerst rechten Parteien liege darin, dass sie als Fleisch vom Fleisch der Union begannen, sagt Bösch, der viel zur Geschichte der CDU und zum deutschen Konservatismus geforscht hat. „Über weite Phasen der bundesdeutschen Geschichte hat die CDU/CSU den rechten Rand erfolgreich integrieren können.“ Der Preis dafür sei gewesen, dass es auch in der Union mitunter rechtere Positionen gegeben habe als bei ihren Schwesterparteien in Westeuropa. Gleichzeitig aber sei die Sprachmacht von rechts-außen ob des Fehlens einer eigenen Plattform vergleichsweise eher gering gewesen.
Die Genese der AfD aber unterscheidet sich aber auch in manchen Punkten von der Entwicklung ihrer Vorgängerparteien. „Die äußere Rechte reüssierte immer dann, wenn es ernsthafte wirtschaftliche Widrigkeiten gab – von der großen Arbeitslosenwelle 1950 über die Konjunkturflaute 1965 und die strukturell hohe Arbeitslosigkeit Mitte der 80er bis zu den Problemen der Vereinigungskrise am Anfang der 90er-Jahre“, sagt Bösch. Das besondere der heutigen Situation sei, dass die reale wirtschaftliche Lage im Vergleich doch ziemlich komfortabel sei.
Warum aber sind die Rechten trotzdem im Aufwind? Folgt man Frank Bösch, paart sich eine diffuse Angst vor dem Fremden, die sich vor allem an der Globalisierung und einem ihrer Begleitphänomene, der transnationalen Migration, entzündet, mit der Furcht vor dem endgültigen Niedergang alter Identitätsmodelle. „Die AfD ist in erster Linie eine Reaktion auf den Wandel der Gesellschaft, auf mehr Spielräume, wachsende Gleichberechtigung und größere Partizipationsmöglichkeiten von Gruppen und Individuen.“
So sei es heute weniger die soziale als mehr die kulturelle Prekarisierung, die als Treibmittel rechter Denkfiguren wirke. „Die Wählerschaft der AfD kennzeichnet sich stark durch die 4 M’s: Das sind vornehmlich Leute mit mittlerem Einkommen, mittlerer Bildung und mittlerem Alter. Vor allem aber sind es Männer“, so Bösch.
Das taktische Verhältnis der AfD zum Extremismus
Abgesehen von den Entstehungsbedingungen trenne die AfD aber noch etwas anderes von ihren unverhohlen rechtsextremen Vorgängern: Nach einem mehr oder weniger kurzen konservativen Geplänkel hätten sich alle Parteien rechts der Union schnellstens radikalisiert und damit zugleich an Einfluss verloren. Aber ist denn die AfD mit den Austritten ihrer ehemaligen Vorsitzenden Bernd Lucke und Frauke Petry rhetorisch und im Programm nicht ebenfalls immer extremer geworden? Hat sie nicht spätestens mit „Chemnitz 2018“ den offenen Schulterschluss mit Pegidisten, Identitären, Burschenschaftlern und anderen Straßennazis vollzogen?
Die Sache sei komplizierter, sagt Bösch. Grundsätzlich hätten die Rechtsaußenparteien stets aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt. Schon die NPD hatte mit Blick auf das Verbot der SRP zunächst keinen offenen Umsturz propagiert. Nicht von ungefähr sprach der Historiker Lutz Niethammer in seiner 1969 veröffentlichten NPD-Studie von „angepasstem Faschismus“.
Die AfD sei in Teilen natürlich deutlich moderater als NPD oder Republikaner. Zugleich aber sei sie auch in taktischer Hinsicht viel besser aufgestellt als diese. So fährt sie bekanntlich eine konsequente Doppelstrategie aus kalkulierten Tabubrüchen und halbherzigen Dementis, hält ihre Fahne in den rechtsextremen Wind und gibt sich anschließend bürgerlich. Die AfD moderiert auf geschickte Weise ihren eigenen Radikalisierungsprozess und beugt so, anders als die anderen Rechten, ihrer möglichen Marginalisierung vor.
Viel mehr als eine Nachgeschichte zum Nationalsozialismus
Alles in allem ist es also wenig verwunderlich, dass sich die zeithistorische Forschung den modernen Rechtsextremismus in Zukunft stärker vorknöpfen möchte. Der Historiker Yves Müller erklärt, man müsse die Perspektive erweitern. Die historische Entwicklung der extremen Rechten in Deutschland dürfe nicht mehr bloß als Nach-Geschichte des Nationalsozialismus begriffen werde. Vielmehr müsse man sie ebenfalls als Vorgeschichte der Gegenwart sehen. Viele Phänomene, zum Beispiel die Einflussnahme der rechten Agenda auf Diskurse der Mitte und den politischen Prozess, harrten noch immer der Aufarbeitung.
Das wohl schwerwiegendste Phänomen aber, das dringend weiterer Erforschung bedarf, sind die rechtsextremen Gewaltexzesse, die den Aufschwung rechter Parteien und Bewegungen immer wieder begleitet haben, sagen Müller und Bösch. So sei im öffentlichen Bewusstsein fast vollständig verloren gegangen, dass die rechte Gewalt in Deutschland nicht erst im Fahrwasser der Wiedervereinigung mit dem Pogrom von Hoyerswerda beginnt. Bereits Ende der 70er-Jahre habe es in Westdeutschland Anschläge mit Toten auf Unterkünfte von Flüchtlingen gegeben.
Die NSU-Mörder hatten ihre Vorläufer. So kulminierte die damalige Radikalisierungswelle des rechten Milieus am 26. September 1980 im Anschlag auf Besucher des Oktoberfests. Bis heute ist das im Vergleich zum linken und islamistischen Terror hierzulande eher wenig rezipierte Oktoberfestattentat der Anschlag mit den meisten Toten in der Geschichte der Bundesrepublik.
Christoph David Piorkowski