Nach Jamaika-Aus: Was Demokratien stärkt
Nach dem Jamaika-Aus reden alle von Weimar. Zu Recht? Der Historiker Andreas Wirsching über deutsche Ängste und stabile Demokratien. Ein Essay.
Reflexhaft erzeugt das Scheitern der Jamaika-Sondierungen die Sorge vor politischer Instabilität, sowohl in Deutschland selbst wie im europäischen Ausland. Fast automatisch drängen auch historisch dunkel grundierte Gedanken hervor.
Ein erster solcher Gedanke gilt etwa dem 27. März 1930, dem Ende der letzten großen Koalition in der Weimarer Republik. Diese Koalition, bestehend aus der SPD, die den Reichskanzler Hermann Müller stellte, der katholischen Zentrumspartei, der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und der großindustriell und nationalliberal geprägten Deutschen Volkspartei, war so heterogen wie eine Regierung nur sein konnte.
In ihr nistete sich der interessenpolitische Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ein; in der Koalition saßen gleichsam Gewerkschaften und Reichsbund der Industrie stets gemeinsam am Kabinettstisch; entsprechend misstrauisch beäugten sich die beiden Flügelparteien SPD und DVP. Vordergründig scheiterte die Koalition wegen eines „lumpigen“, aber strittigen Viertelprozents im Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. Faktisch freilich waren vor allem die sozialpolitischen Gegensätze zwischen den Koalitionären schon längst unüberbrückbar geworden.
Blick auf 27. März 1930 erzeugt Ängste vor politischer Instabilität
Trotzdem war die Überraschung, ja der Jammer groß, als die SPD die Notbremse zog und die Koalition aufkündigte. „Hat sie bedacht, was für unsere ganze innenpolitische Entwicklung, was für die Zukunft der Demokratie in Deutschland daraus erwachsen kann? Denn jetzt ist alles dunkel und ins Ungewisse gerückt“, so sorgte sich die „Frankfurter Zeitung“.
Auch in der Forschung gilt das Ende der großen Koalition nicht mehr als fast zwangsläufige Folge einer unauflöslichen „Krise des Parteienstaats“, in der kein Kompromiss mehr möglich war. Vielmehr symbolisiert heute das Ende der großen Koalition, als sich die Parteien nicht einigen konnten, den Anfang vom Ende des Weimarer Parlamentarismus: Was folgte, war die Wendung zum autoritären Präsidialsystem, mit dem sich die Demokratie am Ende selbst zerstörte. Der neue Reichskanzler, Heinrich Brüning, ließ sich vom Reichspräsidenten die Vollmacht geben, notfalls auch gegen den Reichstag mit Notverordnungen nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung zu regieren.
Und als der Reichstag im Sommer 1930 von seinem verfassungsgemäßen Recht Gebrauch machte und eine Notverordnung der Regierung aufhob, löste Hindenburg das Parlament kurzerhand auf. Am Ende standen die fatale Septemberwahl von 1930 mit dem parlamentarischen Durchbruch der NSDAP, eine fruchtlose Tolerierungspolitik der SPD und die fortschreitende Lähmung des Parlamentarismus. Der Blick auf den 27. März 1930 erzeugt also durchaus historisch begründete Ängste vor politischer Instabilität.
Aber, so wird man sogleich hinzufügen, das macht eben den Unterschied aus: Es gibt heute kein Staatsoberhaupt, das – wie damals Hindenburg – auch nur von Ferne daran denken würde, das politische Vakuum mit eigenen restaurativen Zielen zu füllen; es gibt auch keine Verfassung, die es wie etwa die Weimarer erlauben würde, einen ganzen Bundeshaushalt per Notverordnung in Kraft zu setzen. Und während der Reichspräsident das Recht hatte, den Reichstag jederzeit aufzulösen, „jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass“, stellt das Grundgesetz einer möglichen Bundestagsauflösung hohe Hürden in den Weg.
Dies und die anderen Regeln des Organisationsstatuts von 1949 entsprangen der durch die Erfahrung bestärkten Sorge vor politischer Instabilität in der Demokratie. Anders als in der Weimarer Republik mit ihrer präsidialen „Reserveverfassung“ entlässt das Grundgesetz den gewählten Bundestag nicht aus der Verantwortung. Er muss gleichsam einen Kanzler oder eine Kanzlerin wählen und kann sich nicht in die Selbstauflösung flüchten. Insofern interpretierte Bundespräsident Steinmeier sein Amt mit bester verfassungsrechtlicher Präzision, wenn er die Bundestagsparteien dazu aufrief, „noch einmal innezuhalten“: In der Tat kann man durch die Wahl übertragene Verantwortung „nach der Vorstellung des Grundgesetzes nicht einfach an die Wählerinnen und Wähler zurückgeben“.
Italienische Verhältnisse?
Das führt zum zweiten dunklen Gedanken, den das Ende der Jamaika-Sondierungen aufruft, und er lautet: Italien, vielmehr „italienische Verhältnisse“: Wahl, Neuwahl und Wiederwahl ohne greifbares Ergebnis und ohne politische Stabilität. Wahlen werden zu einem politisch folgenlosen Verfahren. Eine Demokratie, die den regelmäßigen parlamentarischen Pendelschlag von rechts nach links und zurück nicht mehr aus sich selbst hervorbringt, droht zu erodieren. Am Ende stehen die Implosion des Parteiensystems und eine neue Form der „Postdemokratie“, die einen Berlusconi an die Macht bringt. Das rührt an ein grundlegendes Dilemma der repräsentativen Demokratie.
Allgemein gesprochen ist es die Sorge der politischen Vernunft vor der Irrationalität der Wähler, konkret kann es durchaus auch die Angst der Gewählten vor dem Wahlvolk sein. Natürlich muss man in der Demokratie den Bürgern zutrauen, auch komplexe Sachverhalte verstehen zu können und ein informiertes Votum abzugeben. Andererseits werden die politischen Inhalte immer internationaler, damit immer komplexer und am Ende immer schwerer verständlich. Die „vielleicht größte Aufgabe demokratischer politischer Bildung“ ist es daher, so formulierte es einst Ralf Dahrendorf, „mit Komplexität leben zu lernen“.
Zu häufige Urnengänge in einer politisch unübersichtlichen Situation sind jedenfalls der Stabilität einer Demokratie nicht zuträglich. Wie könnte es auch anders sein in der modernen Welt, in der das Individuum zwingend darauf angewiesen ist, seinen eigenen Lebenskreis von der Komplexität des politischen Daseins möglichst zu entlasten? Es ist ja gerade der Vorzug der repräsentativen Demokratie, dass sie dem Einzelnen erlaubt, gleichsam „Teilzeitbürger“ zu sein. Alle die komplizierten Entscheidungen der Politik muss er nicht selbst treffen, sondern kann sie delegieren. Mehr politische Rationalität, als es das Wählervotum vom 24. September dokumentierte, als immerhin weit über 80 Prozent überzeugt demokratisch wählten, ist daher auch von Neuwahlen nicht zu erwarten.
Auch das Mehrheitswahlrecht ist kein Stabilitätsgarant
Mehr Klarheit und Stabilität würde übrigens auch ein anderes Wahlrecht nicht gewährleisten. In der Geschichte der frühen Bonner Republik gab es immer wieder einmal Überlegungen, das reine Mehrheitswahlrecht einzuführen. Insbesondere in der Großen Koalition von 1966 bis 1969 verbanden sich politische Stabilitätsüberlegungen und Parteitaktik zu einer konkreten Initiative. Sie zerschlug sich erst, als es die SPD doch vorzog, auf eine Mehrheitsbildung durch Koalition (mit der FDP) hinzuarbeiten. Sie tat recht daran, denn ganz abgesehen davon, dass das Wahlrecht nicht zum Spielball der jeweils regierenden Mehrheit werden darf, ist die arithmetisch hinreichend präzise Abbildung des Wählerwillens ein wichtiges Gut. Dass im Übrigen das Mehrheitswahlrecht noch keine politische Stabilität garantiert, lässt sich gegenwärtig in Großbritannien ablesen, wo das Zusammenwirken einer verantwortungslosen Politik und einer partiell demagogischen Presse geradezu eine Staatskrise hervorgerufen hat.
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Der dritte Gedanke, den das Scheitern der Jamaika-Sondierungen aufwirft, gilt dem politischen Personal. Ist das Scheitern nicht auch und im Besonderen eine Niederlage der Kanzlerin (und ihres politischen Partners in Bayern)? Wäre es nun nicht wirklich an der Zeit, die sinkende Zustimmung ernst zu nehmen und, wenn nicht zurückzutreten, so doch zumindest endlich den geordneten Rückzug mit einem klarem Übergang der Macht zu organisieren? Die Antwort auf diese häufig gestellten Fragen ist nicht einfach, zumindest ist sie schwieriger, als es der Impuls des Moments nahelegen mag.
Einerseits ist natürlich die Entwicklung von Mandatsträgern und Regierenden zu Berufspolitikern ein Grundproblem der modernen Demokratie. Sie ist aus vielerlei Gründen unvermeidlich, trägt zugleich aber zur Entfremdung zwischen Gewählten und dem Wahlvolk als dem politischen Souverän bei. Sie lässt die Berufspolitiker stärker an ihren Ämtern und Mandaten „kleben“, als dies für den lebendigen Austausch zwischen Gesellschaft und Politik wünschenswert wäre.
Kann gut für die Stabilität sein, wenn Politiker am Amt kleben
Ist aber andererseits die lange Amtsdauer von Spitzenpolitikern, wie sie die Geschichte der Bundesrepublik auszeichnet, nicht auch ein Ausweis von Stabilität? Konrad Adenauer jedenfalls tat sich extrem schwer mit seinem Rücktritt und ging schließlich „nicht leichten Herzens“, da er sich um die Stabilität der Bundesrepublik und ihrer internationalen Position sorgte. Helmut Kohl konnte nicht abtreten, weil er glaubte, die Stabilität des europäischen Aufbaus erfordere seine Anwesenheit. Und auch Angela Merkel verknüpft das politische Schicksal ihrer eigenen Person sehr deutlich mit dem Versprechen demokratischer (und europäischer) Stabilität. Nun tut man sich im historischen Rückblick leicht, entsprechende Selbstwahrnehmungen als die Rationalisierung eigener Machtpositionen zu erkennen. Andererseits ist ein allzu rascher Wechsel des politischen Personals der Stabilität einer Demokratie durchaus abträglich. Dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller jedenfalls, der am 27. März 1930 seine parlamentarische Regierungsmehrheit aufgab, hätte man durchaus ein bisschen mehr Kleben am Amt gewünscht: ein bisschen mehr Willen zur Ausübung demokratisch legitimierter Macht. Und das gilt im Prinzip für alle demokratischen Parteien der Weimarer Republik.
So schwierig also die Frage nach dem rechten Moment des Rücktritts zu beantworten ist, so klar ist doch, dass das Agieren des politischen Personals von entscheidender Bedeutung für die Stabilität einer Demokratie ist. Das führt zurück zur Ausgangsfrage und zum vierten Gedanken, den das Scheitern der Jamaika-Gespräche nahelegt. Notwendig ist eine überzeugende politische Führung – im besten Sinne des Wortes. Eine neue Kultur der politischen Führung in der Demokratie könnte sich an einigen klassisch-einfachen Prinzipien orientieren, so schwer das in der politischen Praxis, das dürfen wir nicht unterschätzen, auch ist. Eines dieser Prinzipien, oder altmodisch gesagt eine der politischen Tugenden, ist die aufrichtige Kommunikation. Dass jemand sagt, was er meint, und tut, was er sagt, erzeugt Vertrauen. Die Kohärenz von Meinen, Sagen und Tun ist am Ende wichtiger als der Konsens um jeden Preis oder gar das Streben nach einer guten Presse. Zwar gehören theatralische und kämpferische Elemente zur demokratischen Politik von deren Anfängen an dazu. Insofern sollte man hier realistisch sein. Aber wenn in der Öffentlichkeit dauerhaft etwas anderes gesagt wird, als was man in Regierungsbüros und Fraktionssälen für wahr und richtig hält, wenn die Wahrheit verschleiert wird, weil sie unbequem oder umstritten ist, dann hat die Demokratie ein Problem. Und dann hilft es auch nichts, die Irrationalität der Bürger zu beklagen.
Es braucht Politiker, die zu ihrem Wort stehen - mit ihrer Person
Dazu gehört es als weitere politische Tugend, auch unbequeme, aber als wahr und richtig erkannte politische Inhalte konsequent zu vertreten – ohne Rücksicht auf Umfragen Presse und Parteitaktik. Denn überzeugen und in einem landläufigen Sinne erfolgreich sein können am Ende nur die Politikerinnen und Politiker, die persönlich für etwas einstehen, was in der Sache durchaus umstritten ist, von einer meist knappen Mehrheit aber als der richtige Weg erkannt oder zumindest gebilligt wird. In dieser Beziehung ist die Bilanz der deutschen Nachkriegsdemokratie übrigens gar nicht schlecht, und es fehlt keineswegs an Vorbildern.
Konrad Adenauers Politik der Westbindung, Willy Brandts Ostpolitik, Helmut Schmidts kompromissloses Einstehen gegen den Terrorismus der RAF, Helmut Kohls bedingungsloses Festhalten am Nato-Doppelbeschluss, Gerhard Schröders Agenda 2010 sowie Angela Merkels Bekenntnis zur Europäischen Union – alles dies sind Beispiele für die Übernahme von politischer Verantwortung im Angesicht großer Widerstände und zugleich eingebettet in eine politisch vernünftige, im Kern wahrhaftige Kommunikation. Alle diese Entscheidungen haben die Bundesrepublik stabilisiert.
Wenn also eine klare und verständliche Sprache gesprochen wird, so erzeugt dies politische Glaubwürdigkeit. Dann wird auch die Demokratie von der großen Mehrheit akzeptiert werden; nicht als Modus, die beste aller Welten herzustellen – dass dies nicht möglich ist, wissen die Menschen durchaus. Aber die freiheitliche Demokratie wird akzeptiert werden als die dauerhafte und meist mühsame Anstrengung, die bestmögliche der uns bekannten Welten zu bewahren und weiterzuentwickeln. Dann besteht auch kein Grund, vor politischer Instabilität Angst zu haben; denn Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber, um die unvermeidliche Ungewissheit der Zukunft zu ertragen.
Andreas Wirsching ist Historiker. Er leitet das Münchner Institut für Zeitgeschichte und ist Kuratoriumsvorsitzender des Historischen Kollegs. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Andreas Wirsching