Zusammenarbeit mit dem Westen: Dann macht China es eben ohne uns
Anstatt sich ein realistisches Chinabild zu machen, pflegt Deutschland eine schematische Konfrontation - und vergibt damit eine riesige Chance. Ein Essay.
Es lag für Deutschland noch nie so nahe wie heute, die Annäherung an China zu suchen. Zum einen verlangt die relative Schwäche der USA, dass Europa sich um Allianzen mit China bemüht. Zum anderen halten wir China selbst auf Distanz. Wir tun viel zu wenig, um die Beziehungen zu entwickeln - aus guten und aus schlechten Gründen: aus der Einsicht, dass nur unsere eigene Stärke die Basis für Beziehungen auf Augenhöhe ist. Aber auch aus einer ideologisch und emotional verhärteten Haltung, aus Erwartungen, die unseren eigenen Interessen zuwiderlaufen. Eine gesunde Distanz beruht auf rationaler Überlegung und dem Willen, selbst zu steuern.
Dabei stehen wir uns allerdings selbst auf den Füßen, aus Angst vor einem Zerrbild: Wir verstehen China falsch, wenn wir es nach europäischen Erfahrungsbegriffen als „kommunistisch“, „totalitär“ oder „harmonisch“ bezeichnen. Das ist keine Verharmlosung der ethischen Probleme, die es in China zuhauf gibt. Es ist ein Appell, richtig hinzusehen und sich ein begründetes, realistisches und faires Bild von China zu machen. Unverstellt durch moralisches Sendungsbewusstsein.
China stößt auf massiven Widerwillen
Die Zeiten, da China sich massiv darum bemühte „vom Westen zu lernen“, gehen vorbei. China hatte, auch vor dem Hintergrund eigener Demütigungen, durch deutsch-kaiserliche „Hunnen“-Hatz, zerfleischende Bürgerkriege und japanische Terrorbesatzung sowie Maos „Großen Sprung“ zur Kulturrevolution, jeden imperialen Hochmut eingebüßt. Nach dem Ende Maos galt es, entschlossen die Stärke und Erfahrung des „Westens“ für sich zu nutzen, um das Rezept zum Überleben in der globalisierten Moderne zu lernen. Nun schließt sich dieses Fenster: Deutschland gilt, nicht zuletzt durch das überaus stabile Image von Kanzlerin Merkel, als Spitze einer Qualitäts-, Leistungs- und Ordnungskultur westlicher Prägung; es greift jedoch der Eindruck um sich, selbst hier breche die wirtschaftliche und politische Substanz weg, soziale Spannungen werden zur Kenntnis genommen. Umso störender und unverständlicher erscheint der massive Widerwille, auf den China hierzulande stößt, wenn Vertrauen aufgebaut werden soll.
Der westliche Stempel verblasst zusehends
Das ist schade. Die Gründe unserer Stärke, die in einem komplexen und tief in der Gesellschaft verwurzelten Geflecht von Kompetenzen gründen, Wert und Werte aus Vielfalt zu schöpfen, sind uns nicht so bewusst, dass wir sie souverän vertreten und vermitteln würden. Wir brauchen heute aber gerade einen Entwicklungssprung eben dieser Kompetenz, Vielfalt nutzbar zu machen: darin liegt das Win-Win-Szenario.
Unsere überkommene mitteleuropäische Gemengelage hat großartige Sozialtechniken hervorgebracht. So das Prinzip der Subsidiarität in der ordnungspolitischen Ökonomie, die Nachhaltigkeit in der wirtschaftspolitischen Ökonomie, die Solidarität in der sozialen Ökonomie: Diese Einsichten haben uns im Vorfeld der Industrialisierung und Globalisierung im 18. Jahrhundert so stark gemacht, dass wir schließlich, unter anderem, Chinas Zusammenbruch mit befördern und nutzen konnten, um der neuen Welt unsere Wissenschaft, unsere Medizin, unsere Diplomatie, unsere Kriege und unsere Kolonisten zu bringen.
Dieser Stempel europäisch-amerikanischer Hegemonie verblasst zusehends. Ob die neue Gestalt unseres Globus‘ von den Narben bestimmt sein wird, ob offene Wunden des Kolonialismus und der Kriegstreiberei weiter schmerzen oder ob Heilung gelingt, hängt unter anderem davon ab, ob Europa sich aus seiner satten Schläfrigkeit erhebt: nüchtern Prioritäten und Handlungsmöglichkeiten klärt.
Als China falsch abgebogen ist
Welches Arsenal steht uns heute zur Verfügung?
Fragt man chinesische Experten aus der Wirtschaft, aus der Wissenschaft oder aus dem weiten Feld sozialer Arbeit, dann klingt in den Antworten immer der gleiche Tenor durch: Es sind die solide durchgestalteten mittleren Ebenen, die das Besondere ausmachen. Mittelständisches Unternehmertum, Familienbetriebe, duale Berufsbildung, der Zusammenklang starker Spezialisierung und hoher Allgemeinbildung, kulturelle Vielfalt, ein freies, gesundes Klima des Miteinanders, soziale und gesundheitliche Absicherung auf hohem Niveau - eine lebendige, integrierte Gesellschaft, der es immer wieder gelingt, Spannungen und Widersprüche Konstruktiv aufzulösen.
Das ist freundlich. Es ist auch ein Vertrauensvorschuss. Um etwas abzuleiten, was China konkret von Deutschlands System lernen könnte, ist es jedoch zu umfassend.
Wenn wir uns in Chinas Position hineinversetzen, müssen wir nicht nur an das Trauma des Missbrauchs denken, sondern auch an die Enttäuschung nicht erfüllter Versprechen. Die Strategie, von der Stärke des Siegers zu lernen, um diesen umso sicherer überwinden zu können, ist alt erprobt - die Klassiker sind voll von entsprechenden Strategemen (Sun Zi) und Philosophien (Yijing). Schwieriger ist die Frage, was denn eigentlich zu lernen sei und worauf es dabei ankommt - also genau das Problem, vor dem wir heute wieder stehen.
Gemeinsame Erfahrungsmotive der politischen Kultur
Nach dem Ende des Kaiserreiches 1911 bestand die erste Lehre im Versuch unter Sun Yat-sen eine „Republik“ nach „westlichem“ Vorbild zu errichten. Dabei hatte China damals weder eine organisierte oder artikulierte Öffentlichkeit noch die entsprechenden gesellschaftlichen Infrastrukturen noch ein Staatsvolk, dessen „Sache (Res)“ klar vertreten werden konnte - wichtiger aber: Es gab keine Geschichte geteilter ziviler Erfahrung, zwischen Weltmythen, Ordnungsgeschichten und Familienerzählungen, die das Zusammenwirken einer Vielfalt politischer Ordnungen über die Zeit hinweg abgebildet hätte, wie es in Europa der Fall gewesen war. Es gab keine Brüder Grimm und keinen Luther, die durch Kulturarbeit einen lebendigen Raum schufen, in dem sich ein Volk und seine Mandarine zumindest in der Projektion „wie zu Hause“ begegnen konnten. Chinas Republik blieb ein Abklatsch. Entsprechend gering war die Kraft und Dauer des republikanischen Modells.
Das anschließende Projekt, „Wissenschaft und Demokratie“ wollte seit den 1920er Jahren Strukturelemente der westlichen Vormacht übernehmen, die konkreter fassbar waren. Damit ging man zwar in eine konstruktive Richtung. Die Rezeption litt aber sowohl an einer starken Verzerrung durch positivistische und technische Interessen als auch an der Abstraktion dieser Strategie. Demokratie und Wissenschaft hängen vom Modus des Lernens ab, in dem sie sich zum Ausdruck bringen. Als genuine Graswurzel-Projekte beruhen sie auf der Initiative Einzelner, auf dem gesellschaftlichen Kampf der Subjekte um geeignete Rahmenbedingungen und Anerkennung ihres Wertes durch das jeweilige Regime. Sie lassen sich nicht durch Kopieren oder Labeling ersetzen. Sie sind deshalb die einzige Antwort der aufgeklärten säkularen Moderne auf die Haltung eines Priestertums, dessen Namens-Magie durch paternalistische Offenbarung und Auslegung beschworen wird und dadurch, für manche, real wird. Nur hier bestehen starke gemeinsame Erfahrungsmotive der politischen Kultur zwischen unseren Traditionen.
Verkünden und Kommando waren noch nie geeignet
Sowohl die humanistische wie auch die konfuzianische Vernunft verstand sich dagegen als Arbeit des Einzelnen, an den Kompetenzen für Verantwortung. Noch im späten 18. Jahrhundert war China hiermit viel weiter als das christliche Abendland. Daran beginnt man sich dort, allmählich, wieder zu erinnern.
Genau an dieser Stelle ist China dann aber mindestens einmal grundfalsch abgebogen - wie viele andere Länder, die versucht haben, eine imaginierte Erfolgsformel durch Beschwörung einer nicht vorhandenen demokratischen Kultur oder durch Kopie fremder Institutionen und Infrastrukturen zum Leben zu erwecken, stolpert China seit einem Jahrhundert abwechselnd durch Phasen des Terrors, Anarchie und Autokratie. Die vermeintliche Abkürzung, von oben nach unten verordnet, kann schon im Ansatz nicht funktionieren, weil sie der Grundlogik und Legitimation zuwiderläuft: Erst der Weg durch die Mittel bildet den Zweck - nicht die moralische Emphase. Es gibt auch und gerade für politisches Lernen keinen „Nürnberger Trichter“.
Die Abkürzung ist bequem, sie verhindert aber das Erleben politischen Lernens. Sie spiegelt die Erfahrung nur vor, die für die Aneignung und die Überformung zum „eigenen Weg“, zu einer gelebten und verstandenen und gewollten Demokratie unverzichtbar ist. Umso schlimmer: So ruiniert man den Ruf dieser großen politischen Vision. Die Substanz der Demokratie ist nur so gut wie die Räume aktiv politische Erfahrung zu machen, sei es in der Bildung, in der Erziehung, in der Vielfalt bürgerlicher Partizipation oder den Diskursen einer lernenden Gesellschaft. Verkünden und Kommando sind noch nie geeignet gewesen, Innovation und Zusammenhalt gesellschaftlicher Formen zu befördern.
Der Ausweg liegt in der konkreten Arbeit an Problemen
China hat sein Mantra vom eigenen „dritten Weg“ selbst nicht im Sinne seiner alten Kultur verstanden. Anders als Deutschland, wo die wissenschaftliche Hermeneutik noch immer höchstes Niveau einnimmt, hat China sein Wissen über die Methodik kulturellen Lernens im Schwindel der Globalisierung fahren lassen. Bitterer aber ist die Frage: Was tun eigentlich die Staaten, die über sechs Jahrzehnte von der großen Friedensdividende profitiert haben, um die entsprechenden Gesundungs- und Lernprozesse in Ländern wie China zu unterstützen?
Indem wir China an das Wesen von Demokratie und Wissenschaft als offene Projekte der Menschheit erinnern, finden wir auch selbst Gelegenheit uns dieses Auftrags im eigenen Umkreis zu vergewissern. Auch uns bleibt dies Erbe nur dadurch erhalten, dass wir es uns tätig erwerben, nicht seinen Namen benutzen, um einen Status Quo zu verteidigen.
Wie tief und schwierig diese Aufgabe auch für uns nominelle Demokraten mittlerweile ist, zeigt ein weiteres Gedankenexperiment. Es könnte direkt der antiken Diskussion zwischen der Ritualpriesterschaft und konfuzianischer Revision entstammen. Die Schüler des Renegaten Mo Di (um 400 v.u.Z.) kritisierten den Klerus der Ru (die mit dem späteren Konfuzianismus verbundene gesellschaftliche Elite): Es ist ethische Pflicht und gesunde politische Ökonomie, die materiellen und geistigen Ressourcen des Landes in sozial wertstiftende Projekte des Guten Lebens umzulenken, anstatt in Gaukelei, Brot und Spiele.
Ein gemeinsames sozi-ökonomisches Klima pflegen
Was haben wir vorzuweisen, wenn es um die Gestaltung einer demokratischen, werthaltigen Demokratie geht? Entwicklungshilfe für den chinesischen Zirkus? Wollen wir wirklich ausgerechnet im Fußball Lehrmeister bleiben, während unsere Kernkompetenzen immer weiter verwahrlosen? Das ist angesichts der chinesischen Lernkurve sicher nicht nachhaltig. Auf keinen Fall unterstützt es die jeweiligen Voraussetzungen für Verantwortung, Teilhabe und Würde.
Überzeugender als eine Kultur, die sich (mit Neil Postman 1985:) „zu Tode amüsiert“, indem sie ihre Werte rituell in Schall und Rauch versilbert, wäre die Pflege eines sozio-ökonomischen Klimas, in dem Gemeinsinn gedeihen kann: Mit dem von Karl Jaspers und Dolf Sternberger entworfenen Verfassungspatriotismus verfügen wir über eine angemessene Begrifflichkeit. Von dieser Pflege und den mit ihr verbundenen Tugenden Achtung und Respekt unsererseits ist für China nicht so viel zu sehen, dass es dort als Modell verstanden werden könnte. Man nimmt wohl zu Kenntnis, dass wir selbst den Wert unseres Wertepluralismus nicht planvoll entwickeln, nämlich dessen selbst besorgte Ausrichtung auf soziale Güter. Letztlich sind es weder Konsum noch Versprechungen noch Algorithmen, sondern die Akte menschlichen Miteinanders, die Wert schaffen.
Deutschland hat China sehr viel zu bieten
Einen Ausweg aus dem überkommenen Schematismus der Konfrontation bietet die Arbeit an konkreten Problemen. Sie befördert auch eine konstruktive Einstellung. Deutschland hat dank unserer Nachkriegsordnung sehr vieles zu bieten, über das zu reden sich lohnen kann, auch für andere. Wir machen nur viel zu wenig daraus. Neben Stabilität, Produktivität und Verantwortung haben wir spezifische Qualitäten, ganz nach Chinas Geschmack, besonders Stabilisatoren wie: Arbeitsgesundheit, Rechtssicherheit, Vertragsschutz, Interessenausgleich zwischen Starken und Schwachen, Einzelnen und Gruppen; starke persönliche Interessen-Verbünde; Sozialverpflichtung des Eigentums; der besondere Schutz der Familie. Und wir stehen vor gemeinsame Herausforderungen, wie dem Verstehen von Informationstechnologie, zum Beispiel bei der Erfassung der Bio- und Verhaltens-Daten von Einzelnen und Gruppen, das für eine Balance von Freiheit und Kontrolle grundlegend ist.
Die Arbeit der Vertrauensbildung, des Verstehens und der Kritik kann hier ansetzen, mit Respekt, Geduld, Lernbereitschaft und dem Wissen, in einem Boot zu sitzen. Nicht aber ein verhärtendes Urteil.
Der Autor, habilitierter Philosoph und Sinologe, lehrt und forscht an der Freien Universität Berlin und der Polytechnischen Universität Hongkong.
Ole Döring