Warum wir nicht von asiatischen Ländern lernen: Corona offenbart die westliche Arroganz
Dass Deutschland in Sachen Pandemiebekämpfung nicht von Erfolgen aus Asien profitieren wollte, hat vor allem mit postkolonialer Ignoranz zu tun. Ein Essay.
Jürgen Gerhards ist Professor für Makrosoziologie an der Freien Universität Berlin. Michael Zürn ist Direktor der Abteilung „Global Governance“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin.
Die Bilanz liberaler Demokratien in Europa bei der Pandemiebekämpfung fällt im Vergleich zu den asiatischen Ländern nicht sehr gut aus. Das gilt nicht nur mit Blick auf die autoritären Länder China und Thailand und den semiautoritären Stadtstaat Singapur, sondern auch, wenn man auf die demokratischen Länder Taiwan und Südkorea schaut. Die Infektionszahlen sind aufgrund der verschiedenen Testintensität zwar nicht gut vergleichbar.
Die Unterschiede zeigen sich aber in der Anzahl der verstorbenen Menschen. Während zum Beispiel in Südkorea bei einer Bevölkerungszahl von 52 Millionen bis dato weniger als 1500 Personen verstorben sind, sind es in Deutschland mit einer Bevölkerung von 83 Millionen mehr als 60.000 Menschen. Die Unterschiede zwischen anderen europäischen und asiatischen Ländern (zum Beispiel zwischen Großbritannien und Taiwan) fallen noch deutlicher aus.
Auch im Hinblick auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Krise sind die genannten asiatischen Gesellschaften beeindruckend erfolgreich. Gerade weil die Ausbreitung des Virus sehr früh eingedämmt wurde, konnte das Leben nach relativ kurzer Unterbrechung weitergehen.
Bleiben wir der Einfachheit halber bei dem Vergleich Deutschland und Südkorea: Das Bruttoinlandsprodukt Südkoreas fiel 2020 im Vergleich zum Vorjahr lediglich um ein Prozent, während die deutsche Wirtschaft um fünf Prozent geschrumpft ist. Zur Verhinderung eines noch größeren Einbruchs hat sich die Bundesrepublik zudem in hohem Maße verschuldet; dies ist sicherlich aktuell eine sinnvolle Maßnahme; sie wird aber die Handlungsfähigkeit des Staates für andere politische Aufgaben in der Zukunft stark einschränken.
Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die den Erfolg der asiatischen Länder erklären helfen. Einige sind durch das politische Handeln der Regierungen nicht beeinflussbar.
Dazu gehört die Insellage wie im Fall Taiwans oder die weitgehende Abgeschlossenheit im Fall Südkoreas, vorherige Erfahrungen mit Pandemien und die deshalb aufgebaute Infrastruktur oder auch die schon vor Corona eingespielte Gewohnheit, sich in der Öffentlichkeit durch Masken zu schützen. Hinzu kommt das geringere Durchschnittsalter der Bevölkerung dieser Länder, was sich positiv auf die Anzahl der Todesopfer auswirkt.
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Diese Unterschiede allein reichen aber nicht aus, um den Erfolg zu erklären. Die asiatischen Länder haben Maßnahmen ergriffen, über die man hierzulande gar nicht richtig diskutiert hat, weil sie frühzeitig als Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung der Bürger etikettiert wurden. Dazu gehört vor allem der Einsatz der neuen Technologien zur schnellen Identifikation derer, die infiziert sind, damit das Virus nicht weitergetragen werden kann.
Quarantäne wird per Funkzellenortung kontrolliert
In Taiwan müssen sich zum Beispiel Einreisende 14 Tage lang in eine strikte Quarantäne begeben, entweder in einem Vertragshotel der Regierung oder privat und kontrolliert durch eine Funkzellenortung. Strikt isoliert werden vor allem infizierte Personen für den Zeitraum, in dem sie ansteckend sind; auch dies wird kontrolliert und bei Nichteinhaltung der Quarantäne hart sanktioniert, während man hierzulande die Isolation von infizierten Personen diesen selbst überlässt.
Zu den Maßnahmen gehört weiterhin die schnelle elektronische Rückverfolgung von Kontakten mit Infizierten und die zeitnahe, digitalisierte Benachrichtigung aller potentiellen Kontaktpersonen. Keine Frage, eine solche Politik stellt einen zumindest temporären Eingriff in die Privatsphäre dar. Entsprechend müssen solche Maßnahmen einer strikten Kontrolle unterworfen werden; es muss vor allem gesichert sein, dass alle Daten nach sehr kurzer Zeit und zuverlässig wieder gelöscht werden.
Hierzulande gab es keine Diskussion, ob man etwas übernehmen könnte
Es mag dennoch sein, dass einzelne Maßnahmen sich bei genauerer Prüfung als ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheitsrechte erwiesen hätten. Aber da setzt das Problem an: Es gab gar keine Diskussion darüber, geschweige denn eine systematische Prüfung, obwohl die Bundesrepublik wie viele andere westliche Gesellschaften von diesen Maßnahmen hätte lernen können.
Ein solches Lernen nach der Best-practice-Methode aber fand und findet nicht statt. Dabei könnte Deutschland sicher auch von der Digitalisierung der Schulen in diesen Ländern lernen, damit zumindest die negativen Folgen der Schulschließungen gelindert werden können.
[Auch bei Tagesspiegel: Was dicht bleibt, wer öffnen darf – die Corona-Beschlüsse vom Mittwoch im Überblick]
Die Erfolge einiger asiatischer Länder in der Pandemiebekämpfung sind keine Ausnahme. Seit zwei Jahrzehnten lassen sich ähnliche Erfolgsmeldungen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen vernehmen. Dazu zählen die wirtschaftlichen Wachstumsraten und die Erfolge bei der Bekämpfung der absoluten Armut. Dieter Senghaas hat diese Prozesse als nachholende Entwicklung beschrieben.
Ähnlich wie die kontinentaleuropäischen Länder am Ende des 19. Jahrhunderts den Vorsprung Großbritanniens im Zuge der industriellen Revolution aufgeholt haben, finden derzeit vergleichbare Prozesse in außereuropäischen Regionen statt.
Dabei haben die „Spätstarter“ den Vorteil, dass sie aus den Fehlern der „Frühstarter“ lernen können. Es wird aber übersehen, dass die Frühstarter auch von den Spätstartern lernen müssen. Wenn darauf verzichtet wird, besteht die Gefahr, im internationalen Wettbewerb zurückzufallen und sich vermeidbare Probleme einzuhandeln.
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Großbritannien hat diese Erfahrung im 20. Jahrhundert machen müssen. Während die Wachstumsraten eines Landes wie Indien mit dem Hinweis auf die nachholende Entwicklung und die absolut gesehen höhere Wertschöpfung bei einem Prozent Wachstum in Deutschland noch ausgeblendet werden kann, schlägt Desinteresse dann in Borniertheit um, wenn die Sozialindikatoren der aufholenden Länder auch in absoluter Hinsicht besser sind.
Diese absolute Überlegenheit der Spätstarter können wir jetzt in der Pandemie beobachten. Von deren Erfolg nicht lernen zu wollen, kann nur als Ausdruck einer fortgeschriebenen kolonialen Arroganz verstanden werden.
Vergleiche gab es, wenn überhaupt, nur mit den USA
Symptomatisch für die geringe Wahrnehmung erfolgreicher Politiken anderer Länder ist die öffentliche Berichterstattung über die Pandemie, vor allem in den Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die weiterhin sehr hohe Zuschauerzahlen erreichen. Allabendlich kreist die Berichterstattung um das eigene Land. Nur sehr selten wird die Binnenperspektive verlassen und über die Corona-Politik derjenigen Länder berichtet, die die Ausbreitung des Virus eingehegt haben.
Bis in den Spätherbst 2020 herrschte hierzulande das Narrativ vor, Deutschland stehe in der Bekämpfung der Pandemie ganz hervorragend da. Der vergleichende Blick ging meist Richtung Westen und wählte sich die USA unter Trump als Bezugspunkt aus. Bildstark wurde über die Überlastung von Bestattungsunternehmern oder lange Schlangen vor den Notaufnahmen amerikanischer Krankenhäuser berichtet.
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Der Blick Richtung Asien blieb aus. Und wenn berichtet wurde, dann meist mit einem herablassenden Unterton: Diese schränkten mit autoritären Maßnahmen die Freiheitsrechte der Bürger in unangemessener Weise ein, ein Weg, der mit der Selbstvorstellung des Westens nicht kompatibel sei.
Spätestens seit Dezember und dem Beginn des langen Teil-Lockdowns sind aber die massiven Freiheitseinschränkungen hierzulande nicht zu übersehen.
Zwar mag man sich rühmen, mit einer nicht funktionierenden Corona-App die informationelle Selbstbestimmung der Bürger geschützt zu haben, zugleich wurden aber Geschäfte, Schulen, Kultureinrichtungen und Restaurants geschlossen, die Bewegungsfreiheit und die Kontaktmöglichkeiten auch in den eigenen vier Wänden eingeschränkt und Demonstrationen verboten: Maßnahmen, die tief in die Freiheitsrechte eingreifen. Im Vergleich dazu scheint die informationelle staatliche Kontrolle, der sich die Bürgerinnen und Bürger Südkoreas oder Taiwans unterwerfen müssen, fast wie eine Marginalie.
Die Beratungsgremien sind rein national besetzt
Aber nicht nur die Corona-Berichterstattung kreist um den nationalen Nabel, auch die wissenschaftlichen Beratungsgremien der Politik weisen eine merkwürdige Selektivität auf. Sie spiegeln nicht nur die Diskurshegemonie der Virologen, Epidemiologen und Mediziner, weil die Gesellschaftswissenschaften weitgehend ausgeschlossen sind. Es handelt sich vor allem um rein nationale Gremien. Experten aus erfolgreichen Ländern sind nach unserer Kenntnis nicht systematisch einbezogen.
[Mehr zum Thema: Hinter den Kulissen des Corona-Gipfels: Wie beim Kuhhandel – so kamen die Beschlüsse zustande (T+)]
Die Pandemie ist leider kein Einzelfall. Die Ignoranz des Westens gegenüber erfolgreichen Politiken asiatischer Länder zeigt sich auch in anderen Politikfeldern, wie zum Beispiel dem der Bildung. Seit der Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie vor 20 Jahren ist das mittelmäßige Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu ihren Altersgenossen in vielen asiatischen Ländern bekannt. Auch hier ist das Stadium der nachholenden Entwicklung längst verlassen worden, und weite Teile Westeuropas müssten dringend nacharbeiten.
Es ist wissenschaftlich hinreichend erforscht, dass Bildung die alles entscheidende Ressource für Innovationen und die Zukunft einer Gesellschaft darstellt. Ein systematisches Lernen von den bildungspolitischen Praktiken erfolgreicher asiatischer Länder blieb aber weitgehend aus. Finnland als ein vergleichsweise erfolgreiches Land in Europa wurde von allen Schulpolitikern bereist und in den Himmel gelobt.
Die Erfolge der asiatischen Demokratien aber wurden weitgehend ignoriert. Der Verweis auf eine vermeintlich andere, kollektivistische und autoritäre Kultur legitimierte dies.
Höchste Zeit, sich auf pragmatisches globales Lernen einzulassen
Woher rührt die Ignoranz? Der amerikanische Soziologe William Ogburn hat 1922 seine Theorie des „Cultural Lag“ formuliert, die helfen kann, die Ignoranz des Westens gegenüber der Entwicklung asiatischer Länder zu erklären. Ogburn ging davon aus, dass unsere Wahrnehmungen, kulturellen Deutungen und Bewertungen der faktischen Entwicklung von Gesellschaften zeitlich hinterherhinken.
In der Ignoranz des Westens gegenüber den Erfolgen asiatischer Länder in der Pandemiebekämpfung scheinen tradierte, häufig noch aus der Kolonialzeit stammende und längst überholte Fremd- und Selbstbilder aktiviert zu werden.
Dazu gehören Vorstellungen von Rückständigkeit, autoritären und kollektivistischen Orientierungen einerseits und dem Westen zugeschriebene Attribute von Selbstbestimmung, Individualismus und Fortschritt andererseits. Die Realität sieht (und sah wahrscheinlich schon immer) anders aus. Es ist höchste Zeit, die tradierten Narrative postkolonialer Ignoranz über Bord zu werfen und sich auf ein pragmatisches globales Lernen einzulassen.
Man wünscht sich in diesem Zusammenhang die bessere Einbindung von ausländischen Beratern aus Ländern, die erfolgreich die Pandemie eingedämmt haben und eine regelmäßige mediale Berichterstattung über die Coronapolitiken anderer Länder. Das könnte dann auch zu einer effektiven und aufgeklärten Pandemiepolitik in Deutschland führen. Für dieses Mal mag es dafür zu spät sein.
Aber Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie des 21. Jahrhunderts sein und Pandemiepolitik ist nicht das einzige Politikfeld, wo die westlichen Gesellschaften von den sogenannten „Spätstartern“ lernen sollten.
Jürgen Gerhards, Michael Zürn
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