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Abgestiegen. Das Iduna-Zentrum war einst beliebt bei Studenten und Singles.
© Swen Pförtner, dpa
Update

Iduna-Zentrum in Göttingen: Corona-Ausbruch im Brennpunkt „Villa Kuntergrau“

Das Iduna-Zentrum war mal ein Prestigeobjekt und ein Postkartenmotiv in Göttingen. Heute leben dort 700 meist arme Menschen eng an eng. Ein Ortstermin.

Wie in den Vortagen steht auch am Donnerstagmorgen ein Polizeiwagen auf dem Bürgersteig gegenüber dem Göttinger Iduna-Zentrum, das die örtlichen Medien nur noch den „Corona-Block“ nennen. Am Mittwoch war die Stimmung in den drei aneinanderklebenden Wohntürmen gar nicht gut, weil die Stadtverwaltung Corona-Tests für alle 700 Bewohner angeordnet hat.

Am Abend des 23. Mai sollen im Iduna-Zentrum mehrere Großfamilien das Zuckerfest gefeiert haben – auf engem Raum und ohne die Abstandsregelungen einzuhalten. Die Zahl der seither mit dem Virus neu infizierten Personen in Göttingen war bis Donnerstag auf 105 geklettert.

In der ganzen Stadt musste das öffentliche Leben eingeschränkt schränken, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Sportvereine müssen den Betrieb einstellen, weil viele Kontaktpersonen der Infizierten dort aktiv sind. Alle Schulen und einige Kindergärten sind geschlossen.

Am Freitag hat die Stadt Göttingen nun mit dem Massentest der Bewohnern des Iduna-Zentrums begonnen. Zwischenfälle habe es bis zum Vormittag nicht gegeben, sagte eine Polizeisprecherin.

Der Massentest soll bis Sonntag abgeschlossen sein. Die Stadt will zur Not mit Hilfe der Polizei durchsetzen, dass alle Bewohner zu den Test erscheinen.

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Schmuddelkulisse für den „Tatort“

Voraussichtlich müssen zahlreiche Schulkinder für zwei Wochen in Quarantäne. Unter den bislang 120 Infizierten im Zusammenhang mit den Privatfeiern befinden sich 39 Schülerinnen und Schüler. Für alle Kinder und Jugendlichen, die nun in Quarantäne müssen, sei dies ein großes Problem, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Stadtschülerrats, Tim Wiedenmeier. „Das bedeutet weitere soziale Abschottung. Die ist schwer zu ertragen.“ Wie viele Jungen und Mädchen genau betroffen sind, konnte ein Stadtsprecher zunächst nicht sagen.

Das Iduna-Zentrum hat seinen Namen von einer Versicherung, die den Bau vor knapp 50 Jahren in Auftrag gegeben hat. Damals galt der Komplex als Top-Adresse. Appartements und Büroräume waren schnell an betuchte Studierende oder im Beruf aufstrebende Singles vermietet oder verkauft. Bewohner schwärmten von der tollen Aussicht. Im Erdgeschoss gab es ein Schwimmbad. Ende der 1970er Jahre ließ die Stadt Göttingen Fotos des Gebäudes auf Werbepostkarten drucken.

Seinen guten Ruf hat das Iduna-Zentrum längst verloren. Einige nennen es heute die „Villa Kuntergrau“ oder die „Herberge zur lockeren Schraube“. Auf dem Dach wuchert ein Wald von Mobilfunkantennen, an den meisten der kleinen Balkone hängen Satellitenschüsseln.

Neben rund 400 Wohnungen beherbergt der Betonklotz eine private Fachhochschule, ein Restaurant und zwei Clubs. Statt Jura- und Betriebswirtschaftsstudenten wohnen hier jetzt viele Bürgerkriegsflüchtlinge, Roma aus dem Kosovo, Empfänger von Hartz IV und anderen Transferleistungen, auch verarmte Senioren. Nur wenige Studenten sind noch anzutreffen.

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Im vergangenen Jahr mussten Kameraschwenks über das Iduna-Zentrum in einem NDR-„Tatort“ dafür herhalten, zu dokumentieren, dass es in der sonst beschaulichen Stadt auch soziale Brennpunkte gibt. Angeblich hatte die Hausverwaltung vor dem Dreh extra den Müll von den Balkonen und vom Parkplatz entfernen lassen. Das Filmteam habe aber wieder Abfälle deponieren lassen, weil das besser zum Drehbuch passte.

Gleichzeitig ist das Iduna-Zentrum auch im realen Leben seit Jahren ein Schwerpunkt in der Arbeit der örtlichen Strafverfolgungsbehörden, sagt zumindest die Göttinger Staatsanwaltschaft. Es geht dabei wohl vor allem um Drogen, in einigen Fällen auch um Gewaltdelikte.

Eigentlich kein Wunder, wenn 700 Menschen auf engem Raum zusammenhocken, viele mit Kriegstraumata, die meisten ohne gute Perspektive. Einige Dutzend Mal im Jahr rückt die Feuerwehr zu Einsätzen im Iduna-Zentrum an. Löschen muss sie aber nur sehr selten. Die allermeisten Alarme werden aus Versehen oder „aus Spaß“ ausgelöst.

Die Miete zahlt das Sozialamt

Die aktuellen Besitzverhältnisse in dem Haus sind kaum zu durchschauen. Die Wohnungen, zumeist Ein-Zimmer-Appartements mit 30 bis 34 Quadratmetern, sollen bis zu 200 Eigentümern gehören. Sie brauchen sich um ihre Miete in der Regel nicht zu sorgen, denn diese zahlt oft das Jobcenter oder das Sozialamt. Der Mietpreis, berichteten Bewohner vor Kurzem, entspreche dem vom Amt gewährten Höchstsatz.

Im Erdgeschoss des Iduna-Zentrums betreibt der Verein Jugendhilfe Göttingen einen Familientreff. Insbesondere Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien würden hier beraten und betreut, erzählen Mitarbeiter. Sie kümmern sich um die Gesundheitsbildung der Familien und informieren in mehrsprachigen Aushängen auch über die Corona-Pandemie.

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