Mehr als 100 Infektionen nach Feiern: Göttingens Bürgermeister schließt Lockdown nicht aus
Bei privaten Feiern sollen Großfamilien gegen die Corona-Regeln verstoßen haben. Das Resultat: jede Menge Neuinfektionen. Und es könnte noch schlimmer werden.
Nach dem Coronavirus-Ausbruch in Göttingen im Zusammenhang mit mehreren privaten Familienfeiern ist die Zahl der positiv auf das Virus getesteten Menschen auf mehr als 100 gestiegen – darunter auch eine Reihe von Kindern und Jugendlichen. In der Stadt Göttingen seien 86 Infektionen festgestellt worden, hinzu kämen 18 Infektionen im umliegenden Landkreis sowie eine noch nicht zugeordnete Infektion, teilte die niedersächsische Stadt am Mittwochabend mit. Weitere 218 Menschen seien als Kontaktpersonen ersten Grades unter Quarantäne gestellt worden.
Nach Angaben der Stadt befinden sich drei der Infizierten in stationärer Behandlung, ein Patient muss demnach künstlich beatmet werden. Die Behörden bereiten derzeit einen Massentest in einem Hochhauskomplex vor, in dem es Ende Mai private Feierlichkeiten gegeben hatte. Insgesamt sollen laut der Stadt zwischen 600 und 700 Bewohner des Komplexes noch in dieser Woche auf Sars-CoV-2 getestet werden.
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Die Stadt rechne mit weiteren Infizierten, sagte Sprecherin Cordula Dankert. Die Zahl der in den vergangenen sieben Tagen neu erkrankten Menschen pro 100.000 Einwohner lag am Mittwoch im Kreis Göttingen bei 21,6 – in ganz Niedersachsen bei 5,4.
In jedem Fall sei der Gebäudekomplex der Schwerpunkt der aktuellen Infektionen, berichtete Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD). Dort – nicht in den Moscheen – sei beim Zuckerfest im Beisein auswärtiger Gäste gegen die Corona-Regeln verstoßen worden.
Köhler sagte, dass möglicherweise weitere Verschärfungen zur Eindämmung des Corona-Virus erfolgen müssen, wenn dies notwendig wird. „Ja, ein Lockdown ist nicht ausgeschlossen“, sagte er. Gleichzeitig machte er deutlich: „Was wir brauchen, ist das korrekte Verhalten. Wir erleben hier, dass sich eine Gruppe von Menschen nicht an die Regeln gehalten hat“, kommentierte Köhler die aktuelle Entwicklung. Göttingens Sozialdezernentin Petra Broistedt, gleichzeitig Leiterin des Krisenstabes, ergänzte, dass man fast vier Wochen kaum Neuinfektionen in Göttingen gehabt habe. Köhler: „Dieser grüne Bereich ist aber längst verlassen.“
Nachdem vorsorglich alle Schulen geschlossen worden waren, verfügte die Stadt am Mittwochabend zudem, dass die Göttinger Vereine für vorerst zwei Wochen keinen Team- und Kontaktsport mehr anbieten dürfen: Viele der Infizierten sind Mannschaftssportler. Außerdem wird ein Schwimmbad geschlossen.
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Ein weiterer positiv getesteter Mitarbeiter wird aus einem Göttinger Altenheim mit 123 Bewohnern und etwa 100 Beschäftigten gemeldet, schreibt die „Hessisch Niedersächsische Allgemeine“ (HNA). Sie alle sollen nun auf das Coronavirus getestet werden. Ob diese beiden Entwicklungen mit dem aktuellen Ausbruch in Verbindung stehen, ist allerdings nicht ganz klar.
Nach den Schulschließungen wegen des Coronavirus-Ausbruchs wächst bei Eltern und Schulleitern der Unmut in der niedersächsischen Stadt. „Es ist erschreckend, dass es Menschen gibt, die meinen, für sie gelten die Regeln nicht oder für sie wären die Regeln unter bestimmten Umständen außer Kraft gesetzt“, sagte der Leiter der Neuen Integrierten Gesamtschule Göttingen, Lars Humrich, am Mittwoch. Für die Kinder und Jugendlichen bedeute die neuerliche Schließung aller Schulen in Göttingen eine weitere Verunsicherung.
Der Stadtelternrat in Göttingen unterstützt die Entscheidung der Stadt. „Wir haben selbst die Schließung der Schulen gefordert“, sagte der Vorsitzende des Göttinger Stadtelternrats, Janek Freyjer, dem Sender Hit Radio FFH. „Das ist das kleinere Übel, als mit einem Infektionsgeschehen umgehen zu müssen, das nicht mehr unter Kontrolle zu bringen wäre.“ Für die Verstöße gegen die Corona-Regeln hat er aber kein Verständnis. „Die Eltern sind unglaublich sauer, dass einige so unverantwortlich handeln.“
Ob die massenhaften Corona-Verstöße strafrechtliche Konsequenzen haben, war zunächst ebenfalls offen. Die Stadt sei vorerst damit beschäftigt, die Infektionsketten nachzuvollziehen, sagte Staatsanwaltschaft-Sprecher Andreas Buick. „Wenn sie etwas mehr Luft haben, werden sie entscheiden, gegen wen Ordnungswidrigkeiten-Verfahren eingeleitet und gegen wen Strafanzeigen erstattet werden sollen.“
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Bei den Feiernden handelt es sich um Flüchtlinge aus dem Kosovo, wie die HNA berichtet. „Die Familien flohen 1999 nach Deutschland, als in ihrer Heimat ein Krieg zwischen Albanern und Serben ausbrach“, zitiert das Blatt Flüchtlingshelfer Meinhart Ramaswamy. Ihr Aufenthaltsstatus sei zum Teil bis heute unsicher. Immer wieder habe es Abschiebungen gegeben, obwohl sie in ihrer alten Heimat ausgegrenzt und verfolgt würden. Das habe ihre Einstellung gegenüber den deutschen Behörden geprägt.
Aus seiner Beratungstätigkeit wisse es, dass viele kaum lesen könnten und zudem wenig Deutsch beherrschten. Zielführender sei eine persönliche Ansprache. Die Menschen dieser Gruppe, die er kennengelernt habe, würden die deutschen Nachrichtensendungen nicht verfolgen. Sie informierten sich über die eigene Community.
„Eine Quarantäne durchzusetzen, wird schwierig“, sagte Ramaswamy. Die großen Familien lebten in kleinen Wohnungen. Der Zusammenhalt, auch über die Kernfamilie hinaus, sei groß. Sei jemand krank, kämen alle zusammen. Die Vorstellung, einem Verwandten das Essen vor die Tür zu stellen und ihn allein zu lassen, sei nur schwer zu vermitteln.
Vor einem Generalverdacht, dass sich diese Gruppe nicht an Coronavirus-Auflagen halten, warnte Jasna Causevic von der Gesellschaft für bedrohte Völker. „Es kommt nun darauf an, den Infizierten und den Verdachtsfällen den Ernst der Lage bewusst zu machen – gegebenenfalls in ihrer Muttersprache“, zitiert die HNA Causevic. Die Betroffenen müssten die Gefahren eines unüberlegten Verhaltens erkennen. Wer in Deutschland lebe, habe Rechte, aber auch Pflichten. Die Menschenrechtlerin: „Wir müssen uns alle schützen und offenbar auch manche Menschen vor sich selbst, aber ohne Stigmatisierung und Vorurteile.“ Göttingen könne mit gutem Beispiel vorangehen. (dpa, AFP, Tsp)