Ein Mann fürs Unmögliche: Christian Lindner soll die FDP in Nordrhein-Westfalen retten
Es wird ein Höllenritt: eine Partei, die am Boden liegt, über die fünf Prozent bringen. Wenn das einer kann, dann Christian Lindner, glauben die Liberalen in Nordrhein-Westfalen. Und Philipp Rösler darf dabei bloß zusehen.
Philipp Rösler war „ein willkommener Gast“. Man muss diesen Satz als politischer Laie in Sachen FDP vielleicht zweimal lesen, um seine ganze Sprengkraft zu ermessen. Und die Wucht, die dahinter steckt. Für die FDP.
Man kann es sich aber auch einfacher machen. Dafür genügt es zu fragen, wer diesen Satz gesagt hat und wann. Es war Christian Lindner, seit einigen Stunden der Mann, der an der Spitze der FDP in Nordrhein-Westfalen in den nächsten sechs Wochen die wohl wichtigste Landtagswahl in der Geschichte seiner Partei meistern muss. Die FDP steht in NRW bei sehr mageren zwei Prozent, für den Einzug in den Landtag braucht sie mehr als doppelt so viel. Lindners Mission ist mithin ein Höllenritt. Schlimmer noch: Scheitert Lindner am schier Unmöglichen, sieht es für die ganze Partei finster aus. Alles oder nichts – das ist, schlicht und einfach, Lindners Alternative. Die Liberalen in ganz Deutschland erwarten von ihm die Rettung der FDP.
Und dann stellt sich dieser Christian Lindner, 33 Jahre, am Freitagmorgen vor ein Mikrofon des Deutschlandfunks und degradiert den Vorsitzenden der um ihr Überleben kämpfenden FDP mit zwei trockenen Sätzen zur lächerlichen Randfigur. Philipp Rösler, sagt er über den Abend, als er sich zum Ritt durch die Hölle entschlossen hat, Philipp Rösler war an diesem entscheidenden Abend ein „willkommener Gast“. Er war „da“. Sonst nichts. Guido Westerwelle, man mag denken über ihn, was man will, hätte als FDP-Vorsitzender Lindner für so eine Unverschämtheit einen Kopf kürzer gemacht.
Doch blicken wir zum besseren Verständnis der aktuellen liberalen Verhältnisse noch einmal ein paar Stunden zurück. Es ist Donnerstagabend, weit nach acht, als im NH-Hotel in Düsseldorf sehr viele sehr besorgt aussehende Männer und Frauen nervös im Konferenzsaal auf und ab gehen. Die Landtagsfraktion der FDP hatte tags zuvor die rot-grüne Landesregierung gesprengt. Aus Versehen sagen einige, aus purer Dummheit sagen andere. In der Berliner Parteizentrale wäre niemand auf den verrückten Gedanken gekommen, dass die eigenen Leute in Düsseldorf ausgerechnet in einer Zeit, in der sie (wegen der schlechten Umfragewerte) Neuwahlen überhaupt nicht gebrauchen können, den Landtag in die Selbstauflösung treiben und ein politisches Erdbeben von solcher Schwere auslösen würden, dass man die Erschütterung bis ins ferne Berlin spüren kann. Offiziell wird die Sache von den FDP-Oberen später natürlich zum genialen Plan umgedeutet: Liberale hätten das Schuldenmachen von Sozis und Grünen nicht länger ansehen können. Prinzipienfest sei das, standhaft und mutig. Wer’s glauben mag.
NRW war bisher so etwas wie eine Kaderschmiede des Liberalismus.
An diesem Donnerstag jedenfalls geht es ums Ganze. Jeder der Anwesenden im Saal weiß, was bis zum Wahltag im Mai auf dem Spiel steht. Will die FDP die Fünf-Prozent-Hürde überspringen und in den Landtag einziehen, muss jeder Liberale im Land mobilisiert werden. Doch die Sache ist schwierig. Nicht, weil es nicht genug FDP-Mitglieder in NRW gäbe, der Landesverband ist einer der stärksten in der FDP. Und auch Anhänger gibt es genug, zu deren Familientradition es gehört, FDP zu wählen. Schließlich ist NRW so etwas wie eine Kaderschmiede des Liberalismus. Namen wie Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff und Guido Westerwelle zieren die Traditionsecken der Geschäftsstellen.
Allerdings sind zweieinhalb Jahre gelb-blaues Chaos in der Bundesregierung auch am Liberalismus in NRW nicht spurlos vorüber gegangen. Die Leute schämen sich auch hier, offen zu bekennen, dass sie 2009 FDP gewählt haben. Und auch die Mitglieder zwischen Aachen und Bielefeld vermeiden es, an Wochenenden in Einkaufspassagen unter blaub-gelben Schirmen erwischt zu werden. Sie alle jetzt in sechs Wochen aufzurütteln, ihnen klar zu machen, dass es womöglich um den Untergang der ganzen FDP geht: Dazu braucht man einen an der Spitze mit Witz, Geist und Esprit. Einen, der die Leute hier im Rheinland oder im Bergischen kennt, der sie mitreißen kann, charmant, intelligent, telegen. Einen, der weiß, wie man Wahlkämpfe gewinnt. Der Vorsitzende der Landespartei, Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, ist all das nicht. Ein netter Kerl, fürwahr. Ein gewiefter Stratege und Taktiker in Parteifragen, ein Fachmann, wenn es um das deutschen Gesundheitswesens geht. Aber auf der großen Bühne?
Daniel Bahr will den Überlebenskampf seiner Partei gewinnen. Er kennt seine Schwächen. Er weiß, dass die Aufgabe, die vor der FDP liegt, eine Nummer zu groß für ihn ist. Bahr, das ist an diesem Donnerstag schnell klar, will Lindner, den Charismatiker. Am frühen Abend bittet Bahr Lindner und NRW-Fraktionschef Gerhard Papke in einen abseits gelegenen Konferenzraum. Zu diesem Zeitpunkt hatte Papke schon eine ganze Weile im Landtag auf Lindner eingeredet. „Du musst das machen, wir brauchen dich“. Trotzdem müssen die Parteifreunde im Düsseldorfer NH-Konferenzsaal dann noch mehr als eine Stunde warten.
Bevor Lindner zusagt, pokert er hoch. Er spürt den Druck der anderen, er will aber nicht nur Galionsfigur sein, die mal eben für drei Monate aus Berlin einfliegt. Er will Macht, und zwar die ganze. Schließlich: Wenn es nicht funktioniert, wird es auch seine politische Karriere um Jahre zurückwerfen. Alles oder nichts – darum geht es auch für Christian Lindner. Er will den Chefposten im Landesverband, er will den Job von Daniel Bahr. Und er wird ihn bekommen. Lange wird an diesem Donnerstag in der Vorstandssitzung applaudiert, als Bahr die Entscheidung verkündet. Wenn es eine Chance gibt, dann nur mit Lindner. Und wenn es funktioniert, was nicht ganz ausgeschlossen ist, dann werden beide gewinnen.
Zwischen Rösler und Lindner knirscht es schon länger.
Philipp Rösler steht an diesem Abend im Kreis der Wartenden herum. Mehr als eine Stunde lang. Die FDP in höchster Not: Rösler schien es wichtig, dass er an diesem Abend in Düsseldorf ist. Er ist schließlich der Parteivorsitzende. Kurzerhand sagte der Wirtschaftsminister eine zweitätige Reise nach Amerika ab. Und dann stand er da, der FDP-Vorsitzende, der Bundeswirtschaftsminister und der Stellvertreter der Bundeskanzlerin. Doch in Düsseldorf nahm niemand Notiz von ihm. „Wie Falschgeld“, erinnert sich einer aus dem Landesvorstand, habe Rösler gewirkt. Oben, bei Papke, Bahr und Lindner, dort also, wo die wichtigen Entscheidungen gerade getroffen wurden, da brauchte man ihn nicht. Man hatte ihn nicht dazu gebeten. Mehr noch: Man wollte ihn ausdrücklich nicht dabei haben.
Denn zu den Chancen der NRW-FDP, die Fünf-Prozent-Hürde am 13. Mai zu knacken, gehört das Verhältnis von Rösler zu Lindner. Besser gesagt: das Missverhältnis. Es ist keine vier Monate her, als Christian Lindner dem FDP-Vorsitzenden einen schweren Schlag versetzt hat. Er war in Berlin Generalsekretär, Mitte Dezember ist er plötzlich und unerwartet zurückgetreten. Er wolle gehen, um für eine „neue Dynamik“ Platz zu machen, hatte Lindner den Abschied begründet. Es war ein Paukenschlag, und jeder wusste, dass mit der Dynamik die Aussicht auf ein Ende der kurzen Ära Röslers gemeint war.
Freunde waren die beiden nie. Politische Gefährten im Widerstand zu Westerwelles Neoliberalismus bestimmt. Rösler, der smarte Junge aus Niedersachsen, fünf Jahre älter als Lindner, hatte bundespolitisch bereits einen Namen. Christian Lindner aus Nordrhein-Westfalen kannte in Berlin niemand. Erst, als ihn nach der Bundestagswahl 2009 Guido Westerwelle in die Hauptstadt holte, wurde sein Gesicht bekannt. Und sehr bald auch seine mitreißende Art, über den „mitfühlenden Liberalismus“ zu sprechen.
Als Rösler im letzten Frühjahr Parteichef wurde, begann die Entfremdung der beiden Hoffnungsträger. Es ging schon beim Wahlparteitag in Rostock los. Als der Satz fiel: „Wir werden liefern“. Rösler hatte ihn gesagt, um seine Kraft als neuer FDP-Chef zu verdeutlichen. Lindner wusste davon nichts. Dafür wusste er, was die Parteimitglieder nun erwarteten. Nämlich Lieferung, und zwar von Gütern, die einst Westerwelle ihnen versprochen hatte: Steuersenkungen. Lindner wird diesen Augenblick später als Fehler bezeichnen. Es sollte nicht der letzte sein, den Rösler in seinen Augen gemacht hat.
Daraus erwächst für das Binnenklima der NRW-FDP eine große Chance: Lindner wird in den nächsten sechs Wochen nicht einmal laut sagen müssen, dass er kein Freund des Berliner Parteivorsitzenden ist. Man weiß das spätestens seit Mitte Dezember auch ohne Worte. Er wird für die Nordrhein-Westfalen damit zum natürlichen Gegenpol zu der verhassten Berliner Bundes-FDP. Genau, wie es Wolfgang Kubicki aus Schleswig-Holstein für sich gern augenzwinkernd in Anspruch nimmt. Lindner und Kubicki ziehen quasi gemeinsam in die Schlacht. Für die Zukunft ihrer Landes-Partein. Gegen Berlin, gegen Rösler. Der war übrigens am Donnerstag nach Düsseldorf gekommen, um Daniel Bahr zu bewegen, den Wahlkampf zu führen. Doch im NH-Hotel in Düsseldorf hat ihn niemand nach seiner Meinung gefragt.
Am Freitag hat der FDP–Vorsitzende dann trotzdem so getan, als wäre er an allem beteiligt gewesen. Christian Lindner nannte er „unseren besten Mann“. Der so Gelobte hat derweil im Deutschlandfunk mit zwei kleinen hintersinnigen Wörtchen geantwortet: „Auf bald!“