Flüchtlinge in Griechenland: Camp Idomeni soll aufgelöst werden, Helfer verlassen EU-Hotspots
Dramatische Lage für Flüchtlinge in Griechenland: Helfer ziehen sich aus EU-Hotspots auf Chios und Lesbos zurück, Asylsuchende sollen Idomeni verlassen.
Mit dem neuen Abkommen zwischen der Türkei und der EU verschärft sich die Situation für Flüchtlinge in Griechenland, sowohl auf den Inseln als auch in Idomeni an der Grenze zu Mazedonien. Wegen der Lage verzweifelte Hilfsorganisationen ziehen sich jetzt teilweise zurück. Der Dresden-Balkan-Konvoi, der sich seit Dezember auf Chios engagiert, nannte als Grund dafür eine massive Behinderung der Arbeit und die Verletzung von Menschenrechten vor Ort. Auch Ärzte ohne Grenzen und Oxfam verkündeten den Rückzug aus dem EU-Hotspot Moria auf Lesbos: "Wir werden nicht zulassen, dass unsere Hilfe instrumentalisiert wird."
Die EU und die Türkei haben vereinbart, dass alle ab dem 20. März in Griechenland ankommenden Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden. Zuvor müssen diese registriert und ihre Asylanträge aufgenommen werden. Die Rückführungen sollen am 4. April starten. Im Auffanglager Moria sollen Migranten bis dahin bleiben. Bis Sonntag waren sie frei, das Camp ebenso wie die anderen vier Auffanglager auf den Inseln Samos, Chios, Leros und Kos zu verlassen. Sie konnten dann etwa eine Fähre zum Festland nehmen. Von dort haben sich bislang Hunderttausende auf den Weg über die Balkanroute nach Norden gemacht - meist mit dem Ziel Deutschland.
Franziska Pilz vom Dresden-Balkan-Konvoi berichtete am Donnerstag dem Tagesspiegel aus Chios, das vom Militär verwaltete Registrierungslager Vial sei zum Abschiebegefängnis umfunktioniert. Alle anderen Camps seien geschlossen. "Die Menschen werden, sobald sie auf der Insel sind, in dieses Abschiebegefängnis gebracht, das sind nicht verlassen dürfen."
Die Versorgung in dem vom Militär geleiteten Camp sei schlecht organisiert, immer wieder komme es zum Tumulten und Protestaktionen der Geflüchteten. Griechenland sei auf das neue Abkommen zwischen der Türkei und der EU "nicht vorbereitet", sagte Pilz. Der Dresden-Balkan-Konvoi erklärte, er werde dieses "menschenunwürdige Verhalten" nicht unterstützen. Es habe in den vergangenen Wochen auch viele andere Behinderungen der Arbeit von freiwilligen Helfern gegeben: Autos einer anderen Gruppe seien konfisziert worden, weil der Eigentümer nicht am Ort war. Mehrmals sei auch Nichtregierungsorganisationen verboten worden, Flüchtlinge zu versorgen, die von der Küstenwache in den Hafen von Chios gebracht worden waren - freiwillige Helfer warten demnach vergeblich mit Getränken, Essen und trockener Kleidung am Hafen.
"Nicht zu Komplizen eines unmenschlichen Systems machen"
Am Donnerstag stellte auch die Nothilfeorganisation Oxfam mit sofortiger Wirkung ihre Tätigkeit im Camp Moria ein, ähnlich wie zuvor auch Ärzte ohne Grenzen. Oxfam erklärte, man bekenne sich zum Grundsatz, humanitäre Hilfe zu leisten, wo sie am meisten benötigt werde. "Es widerspricht allerdings den Prinzipien von Oxfam, in geschlossenen Zentren zu arbeiten, in denen Bewegungsfreiheit und andere Grundrechte für Flüchtlinge drastisch eingeschränkt werden. Humanitäre Hilfe darf sich nicht von politischen Zielsetzungen vereinnahmen lassen."
Oxfams Griechenland-Beauftragter, Giovanni Riccardi Candiani, kommentierte: "Es ist unbegreiflich, wieso Europa die Rechte derer, die kommen, um Schutz zu erfahren, außer Kraft gesetzt hat. Menschen einzusperren, die keinerlei Verbrechen begangen und die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Sicherheit und eine bessere Zukunft zu suchen, verletzt sämtliche Werte, die Europa in der Vergangenheit so leidenschaftlich verteidigt hatte."
Marie Elisabeth Ingres, Einsatzleiterin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Griechenland, sagte, mit einer Fortführung der Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Hotspot Moria auf Lesbos würde man sich "zu Komplizen eines Systems machen, das wir als unfair und unmenschlich ansehen". Neuankommenden soll aber weiter Ersthilfe geleistet werden, auch die Seenotrettung an der Nordgrenze von Lesbos werde fortgeführt.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hatte am Dienstag seine Kritik am EU-Türkei-Abkommen untermauert und ähnliche Konsequenzen gezogen. Ein Sprecher kündigte an, seine Organisation werde nicht mehr dabei helfen, auf der griechischen Insel Lesbos ankommende Flüchtlinge in das Auffanglager Moria zu bringen. Er begründete dies damit, dass die Menschen durch den EU-Türkei-Deal in dem Lager nun gegen ihren Willen festgehalten werden sollten und so ihrer Bewegungsfreiheit beraubt würden. Die Europäische Union und Ankara hätten mit ihrer Politik die rote Linie überschritten. Das UNHCR beteilige sich nicht an "Haftzentren". Laut Dresden-Balkan-Konvoi hat das UNHCR auch auf Chios die humanitäre Hilfe eingestellt und leistet nur noch rechtliche Beratung.
Ein UNHCR-Sprecher sagte, sein Hilfswerk sei gegen eine "obligatorische Haft". Für seine Organisation sei der Stopp des Transports von Menschen von und nach Moria eine Grundsatzentscheidung. Das UNHCR werde aber weiter an der Küste und im Hafen von Lesbos helfen, Menschenleben zu retten. Im Lager werde das Hilfswerk beobachtend und beratend tätig sein. Durch die Entscheidung des UNHCR stehen nach Angaben eines Polizeisprechers nur noch zwei Busse zur Verfügung, um Flüchtlinge nach Moria zu transportieren - einer von der Küstenwache und ein anderer von der Polizei.
Schwerer Sturm über der Ägäis: Keine Flüchtlinge angekommen
Zum ersten Mal seit Monaten hat in den vergangenen 24 Stunden kein einziger Migrant von der türkischen Ägäisküste zu den griechischen Inseln übergesetzt. Dies teilte am Donnerstag der griechische Stab für die Flüchtlingskrise mit. Die Behörden sind sich sicher: "Ursache ist ein schwerer Sturm, der gestern in unserer Region wütete", sagte ein Offizier der griechischen Küstenwache auf der Insel Chios. Auf den Inseln der Ostägäis befinden sich 3924 Migranten.
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in diesem Jahr bis Montag mehr als 147.000 Menschen, die etwa vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet sind, über den Seeweg auf griechischen Inseln angekommen. Rund 60 Prozent davon sind nach UNHCR-Angaben Frauen und Kinder. 13.777 Menschen kamen in Italien an.
Flüchtlinge werden aus Idomeni verlegt
Die Lage im Flüchtlingscamp von Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze und der Umgebung spitzte sich vor Ostern zu. "Ich fürchte, es könnte zu einer Explosion kommen", sagte am Donnerstag die Sprecherin des Rotes Kreuzes aus Idomeni, Despoina Filippidaki. "Einige Migranten - überwiegend junge Leute - blockieren Straßen und wir können unsere humanitäre Hilfe nur unter schwierigsten Bedingungen verteilen", sagte sie.
Die Migranten wollen nach Mitteleuropa weiterfahren und protestieren gegen die Schließung der Grenze zu Mazedonien, der ersten Station der Balkanroute Richtung Norden. Nach Angaben der griechischen Behörden harren in der Umgebung des Flüchtlingslagers von Idomeni mehr als 12.000 Menschen aus. Sie wollen nicht in besser ausgestatteten Lagern in Nordgriechenland untergebracht werden. Sie befürchten, dass sie dort interniert werden könnten.
Offenbar gelingt es der Regierung in Athen jedoch, Flüchtlinge aus Idomeni zumindest teilweise in andere Camps zu bringen, wie die Organisation Ärzte ohne Grenzen am Karfreitag auf Twitter berichtete.
Der Sprecher des griechischen Flüchtlingskrisenstabes, Giorgos Kyritsis, sagte dem Tagesspiegel, die Priorität der Regierung bestehe darin, "dass sich in Idomeni keine Flüchtlinge mehr aufhalten". Er erklärte: "Wir informieren die Flüchtlinge darüber, dass die Grenze geschlossen bleiben wird und dass der griechische Staat ihnen anständige Unterbringungsmöglichkeiten ein paar Kilometer entfernt zur Verfügung stellen kann. Viele Flüchtlinge haben das Camp bereits verlassen."
Der Sprecher der Organisation Ärzte ohne Grenzen, Antonis Rigas, sagte im griechischen Fernsehen, viele Migranten seien mit den Nerven am Ende und hätten in den vergangenen Tagen Mitarbeiter humanitärer Organisationen bedroht. "Wir mussten unsere Mitarbeiter abziehen. Heute werden wir versuchen, wieder ins Camp zu gehen", sagte Rigas am Donnerstag.
Am Dienstag hatten sich bei einer spektakulären Protestaktion zwei Flüchtlinge angezündet. Auch am Freitag demonstrierten Flüchtlinge in dem Grenzort gegen ihre Situation und die geschlossene Grenze.
Bodo Ramelow will Asylsuchende nach Thüringen holen
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) ist zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge etwa aus dem griechischen Grenzort Idomeni bereit. "Wir können unseren Teil zu einer europäischen Kontingentlösung beitragen, sagte Ramelow dem "Spiegel". Derzeit stünden von zehn Erstaufnahmeunterkünften im Freistaat sieben leer. Ramelow zufolge könnte Thüringen im Rahmen einer koordinierten Aktion mehrerer Bundesländer "1000 bis 2000 Flüchtlinge" aufnehmen, "die im griechischen Idomeni gestrandet sind und verzweifelt auf Hilfe hoffen". Voraussetzung sei, dass die Bundesregierung in Visafragen und bei der Logistik helfe. (mit dpa/rtr)