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Bürgerwehr-Einsatz im Arnsdorfer Supermarkt. Mindestens drei Männer gingen auf einen Flüchtling aus dem Irak los und fesselten ihn mit Kabelbindern an einem Baum
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Update

Arnsdorf in Sachsen: Bürgerwehr fesselt Flüchtling nach Streit im Supermarkt

Eine selbsternannte Bürgerwehr in Sachsen setzt einen 21-jährigen Flüchtling mit Kabelbindern an einem Baum fest. Die Polizei fand das Festhalten "sinnvoll".

Streit um eine möglicherweise abtelefonierte Handykarte, Vorwurf des Ladendiebstahls - in einem Netto-Supermarkt im sächsischen Arnsdorf eskalierte eine Auseinandersetzung zwischen Verkäufern und einem 21-jährigen Flüchtling aus dem Irak. Eine selbsternannte Bürgerwehr ging auf den Asylbewerber los, nahm ihn fest und fesselte ihn mit Kabelbindern an einen Baum. Unter den Angreifern war auch ein CDU-Gemeinderat aus dem Ort, wie der Görlitzer Polizeisprecher Thomas Knaup bestätigte. Der Asylbewerber ist Patient des psychiatrischen Krankenhauses in Arnsdorf.

Der Vorgang ereignete sich bereits am Abend des 21. Mai, wurde aber erst jetzt bekannt. In rechten Internetforen kursiert ein zwei Minuten und 35 Sekunden langes Video. Es zeigt einen Wortwechsel des Irakers mit Verkäufern des Supermarkts. Diese fordern den 21-Jährigen immer wieder auf: "Stell die Flaschen hin, nimm dein Telefon und geh!" Zum Ende des Films tauchen mehrere schwarz gekleidete Männer auf, greifen den jungen Flüchtling an. Das Video endet mit dem Satz: "Es ist schon schade, dass man 'ne Bürgerwehr braucht, oder?" In den rechten Foren werden die "drei kräftigen Männer" der lokalen Bürgerwehr als "couragiert" gefeiert.

Im Bericht der zuständigen Polizeidirektion Görlitz heißt es: "Die Polizei wurde um 18:52 Uhr per Notruf zu dem Sachverhalt informiert. Bei Eintreffen einer Streife fanden die Beamten den 21-Jährigen mit Kabelbindern gefesselt an einem Baum auf dem Parkplatz des Supermarktes vor. Die dafür verantwortlichen Männer berichteten, dass sie den Mann zur Abwehr einer angeblichen Gefährdungssituation festgehalten und an einer Flucht gehindert haben wollen. Die Beamten forderten die Personengruppe auf, den Platz zu verlassen. Sanitäter versorgten den 21-Jährigen und brachten ihn zum Arnsdorfer Fachkrankenhaus zurück." Der Iraker trug laut Polizei leichte Verletzungen davon.

Polizeipräsident verteidigt Beamte und Bürgerwehr

Die Personalien der Mitglieder der Bürgerwehr wurden von den Beamten offenbar zunächst nicht aufgenommen. Ein Umstand, der nun auch vom Innenministerium Sachsen geprüft wird, wie dessen Sprecher Andreas Kunze-Gubsch am Donnerstag auf Tagesspiegel-Anfrage sagte. Nach seinen Worten ist die entscheidende Frage, ob den Polizisten die Personalien der drei Männer bekannt sind. Im Polizeibericht vom Mittwoch war zunächst von "mindestens drei derzeit noch unbekannten Männern" die Rede.

Am Donnerstag dann hieß es aus sächsischen Polizeikreisen, drei Tatverdächtige seien inzwischen ermittelt worden. Es handelt sich um drei Männer im Alter von 29, 49 und 54 Jahren, die im Raum Arnsdorf wohnen. Es gebe zahlreiche Hinweise zu weiteren Beteiligten, sagte der Görlitzer Polizeisprecher Knaup. Die Polizei setzte eine "Ermittlungsgruppe Arnsdorf" ein, die den Vorgang nun "mit Hochdruck" aufklären soll. Der Görlitzer Polizeipräsident Conny Stiehl sagte: "Wir werden die Geschehnisse, auch das Handeln der vor Ort eingesetzten, Streife, untersuchen."

Am Nachmittag verteidigte Polizeipräsident Stiehl das Handeln der in Arnsdorf eingesetzten Beamten - und auch das Eingreifen der Männer, die als Bürgerwehr auftraten. Der Asylbewerber sei "stark erregt" gewesen, erklärte er. Die Polizei habe davon ausgehen müssen, "dass das Handeln derjenigen, die zu dem Zeitpunkt - und ich sage das jetzt in vollem Bewusstsein - geholfen haben, korrekt war". In seinem Statement vor Journalisten erklärte Stiehl weiter, wegen der Erregtheit des Flüchtlings sei "dieses Festhalten durchaus auch sinnvoll - ich tue mich schwer zu sagen: notwendig" gewesen. Den Begriff "Bürgerwehr" verwendete der Polizeipräsident in seiner Stellungnahme nicht.

Ermittlungen wegen Verdachts der Freiheitsberaubung

Zusammen mit dem Dezernat Staatsschutz ermittelt die Kriminalpolizei wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung gegen die Bürgerwehr-Mitglieder. Zwar ist es in Notsituationen grundsätzlich jedem erlaubt, einen Täter festzuhalten. Allerdings könnten in diesem Fall die Grenzen des Rechts überschritten worden sein. Bei der Auseinandersetzung zwischen Verkaufspersonal und Flüchtling ist dem Polizeisprecher zufolge niemand verletzt worden, "ebenso kam es zu keiner Diebstahlshandlung oder einer Sachbeschädigung".

CDU-Gemeinderat: Wir haben Zivilcourage gezeigt

Laut einem Bericht der "Sächsischen Zeitung" sind Einzelheiten zu dem Vorfall in Arnsdorf bereits seit Tagen bekannt. Er sei bei der jüngsten Sitzung des Gemeinderates zur Sprache bekommen. Angela Bischof vom Bürgerforum habe ihren Ratskollegen Detlef Oelsner (CDU) konkret darauf angesprochen - er war demnach einer der besagten Männer.

Auf Nachfrage der Zeitung sagte Oelsner, der im vergangenen Jahr auch als Bürgermeister-Kandidat für seine Partei antrat: "Wir haben Zivilcourage gezeigt und hätten das bei jedem anderen ebenfalls getan. Auch wenn es ein Deutscher gewesen wäre."

Unrechtsbewusstsein verspürte Oelsner offenbar nicht, im Gegenteil. Er rief dann sogar am späteren Abend des 21. Mai auf der Notrufnummer der Polizei an, um einen Ladendiebstahl in dem Supermarkt zu melden. Die Ermittler erklären dazu: "Vor Ort stellte sich der Sachverhalt dann anders heraus. Ein Ladendiebstahl hatte sich nicht ereignet."

Hat sich die Polizei noch bedankt?

Der rechts-nationalen Zeitung "Junge Freiheit" schilderte Oelsner am Donnerstag, er habe den Iraker "in den Schwitzkasten genommen und wir haben ihn mit mehreren Kabelbindern an einem Baum festgebunden". Als die Polizei kam, habe er einem Beamten noch seine Personalien gegeben. Dann seien sie alle wieder zurück zum Grillen in den Garten gegangen. Dafür, dass gegen ihn wegen versuchter Freiheitsberaubung ermittelt wird, hat der CDU-Kommunalpolitiker kein Verständnis: "Der Polizist vor Ort hatte sich noch bedankt und gemeint, wir hätten gute Vorarbeit geleistet", behauptete er im Gespräch mit der Zeitung. Oelsner selbst bestreitet, Mitglied einer Bürgerwehr zu sein. Eine solche sei im Ort bisher auch gar nicht gegründet worden.

Bürgermeisterin: Ich schäme mich für diese Menschen

Die Bürgermeisterin von Arnsdorf, Martina Angermann (SPD), bestätigte dem Tagesspiegel, dass der Vorfall in der Gemeinderatssitzung am 23. Mai Thema war. Die Gemeinderätin Bischof war demnach zufällig Augenzeugin der Geschehnisse im Netto-Markt, sie habe selbst dort eingekauft. Bischof schilderte vor den Gemeindevertretern, dass einer der Bürgerwehr-Männer auf dem vor dem Supermarkt auf dem Flüchtling gekniet habe, die anderen hätten um ihn herum gestanden. Oelsner habe seine Teilnahme an der Bürgerwehr-Aktion in der Gemeinderatssitzung bestätigt. Nach seinen Worten habe der Flüchtling die Kassiererin mit der Flasche bedroht.

Angermann kritisierte das Auftreten der Bürgerwehr in ihrem Ort in deutlichen Worten: Es sei "nicht angemessen" und mache "sehr nachdenklich". Die SPD-Politikerin sagte weiter: "Ich schäme mich für diese Menschen."

CDU-Generalsekretär: Das muss aufgearbeitet werden

Der sächsische CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer sagte dem Tagesspiegel: "Ganz klar, die Sache muss aufgearbeitet werden. Die Polizei hat ihre Arbeit aufgenommen. Die Berichte werfen viele Fragen auf, die dringend geklärt werden müssen. Ein Urteil kann erst danach gefällt werden." Auf die Rolle seines Arnsdorfer Parteifreundes Oelsner ging er nicht direkt ein.

Der Kreisgeschäftsführer der Bautzner CDU, Thomas Israel, sagte dem Tagesspiegel: "Wir hüten uns davor, jemand an den Pranger stellen, wo sich am Ende möglicherweise alles ganz anders herausstellt." Es gebe für den CDU-Kreisverband "überhaupt keine Veranlassung, Herrn Oelsner zu rügen oder zu kritisieren". Israel sagte weiter: "Ich war nicht dabei. Wir müssen einfach abwarten." Die mediale Aufmerksamkeit auf den Fall halte er für "ein bisschen übertrieben".

CDU-Ortsverband verurteilt "Selbstjustiz"

Mit deutlichem anderen Akzenten äußerte sich der CDU-Ortsverbandes Arnsdorf. "Der Ortsverbandsvorstand verurteilt die dort vollzogene Selbstjustiz einer angeblichen ,Bürgerwehr'", sagte dessen Vorsitzender Lars Werthmann. "Bedauerlicherweise" sei auch CDU-Mitglied des Ortsverbandes "führend beteiligt" gewesen, "der CDU-Ortsverband verurteilt die Gewaltanwendung".

Werthmann sagte weiter: "In dem veröffentlichten Handyvideo war keine Bedrohung durch den irakischen Patienten des Krankenhauses Arnsdorf zu erkennen. Wir fordern von unserem Mitglied jetzt unverzüglich eine Entschuldigung. Menschen an Bäume zu fesseln entspricht keinesfalls dem christlichen Selbstbild der CDU und auch nicht unserer Auffassung eines Rechtsstaates", sagte der Ortsverbandsvorsitzende. Und: "Es darf keine Selbstjustiz unter dem Deckmantel einer Bürgerwehr geben. Das Gewaltmonopol des Staates liegt bei Justiz und Polizei - ausschließlich sie ist dazu befugt Verhaftungen auszuüben."

Netto: Wir haben Bürgerwehr nicht gerufen

Der Netto-Markt erklärte auf Facebook: "Wir nehmen den aktuellen Vorfall sehr ernst. Nach erster Rücksprache mit unseren Filialmitarbeitern wurden die Personen mit den schwarzen T-Shirts und dem Aufdruck ,Bürgerwehr' von keinem Netto-Mitarbeiter gerufen." Es sei für Netto "eine Selbstverständlichkeit, dass wir unsere Kunden unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder Alter gleich behandeln". Bei einem Diebstahl würden die Kollegen grundsätzlich die Polizei rufen. "Das gezeigte Vorgehen im Video widerspricht unseren Unternehmensvorgaben und wird von Netto Marken-Discount in keiner Weise gebilligt."

Später ergänzte Netto in einer schriftlichen Stellungnahme, der Iraker sei am 21. Mai zuvor bereits zwei Mal im Markt gewesen, um ein Problem mit seiner Handykarte zu klären. "Bei jedem Besuch waren ihm unsere Mitarbeiter sehr behilflich." Eine Rückfrage unserer Mitarbeiter beim Mobilfunkbetreiber habe ergeben, dass die Handykarte bereits abtelefoniert gewesen sei. Der Kunde sei sehr verstimmt gewesen, die Mitarbeiter hätten mehrmals die Polizei gerufen. Bei seinem dritten Besuch am Abend habe der Kunde dann die Mitarbeiter mit einer Flasche bedroht. Den Vorwurf, die Eskalation könne mit Fremdenfeindlichkeit des Arnsdorfer Personals zu tun haben, wies das Unternehmen zurück. "Unsere Mitarbeiter haben dem Kunden helfen wollen", erklärte eine Sprecherin.

Netto-Markt in Arnsdorf
Netto-Markt in Arnsdorf
© Christian Essler/dpa

"Das ist Wild-West-Manier", sagt der Linken-Landeschef

Der sächsische Landes- und Fraktionschef der Linken, Rico Gebhardt, verurteilte die Attacke gegen den Flüchtling. Er sagte dem Tagesspiegel: "Einen psychisch kranken Mann zu schubsen, zu schlagen und mit Kabelbindern an einen Baum zu fesseln, überschreitet jedwede Grenze und ist Selbstjustiz. Das ist Wild-West-Manier." Zu den Berichten, wonach auch ein CDU-Stadtrat unter den "Cowboys" war, sagte er: "Ich fordere die CDU auf, sich unmissverständlich von solchen Methoden zu distanzieren."

Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Matthias Höhn, sprach von "Lynchjustiz". Dass die Polizei die Männer nicht festgenommen habe, sei "widerwärtig und kaputt – und hat dennoch Methode". Sachsen sei "seit Jahrzehnten auf dem rechten Auge blind, seit Jahrzehnten leugnet man dort jedes Problem mit Rechtsextremen, seit Jahren verweigert sich das Land einer klaren Positionierung gegen Rechts". Bürgerwehren müssten grundsätzlich verboten werden, forderte Höhn. Die stellvertretende Linken-Bundesvorsitzende Caren Lay, die ihren Bundestagswahlkreis in Bautzen hat, forderte die CDU auf, ein Parteiausschlussverfahren gegen Oelsner einzuleiten: "Menschenfeinde dürfen keinen Platz in einer demokratischen Partei haben", sagte sie dem Tagesspiegel.

Grüne: Endlich konsequent gegen Bürgerwehren vorgehen

Valentin Lippmann, Innenpolitiker der Grünen im sächsischen Landtag, sagte dem Tagesspiegel: "Der Vorfall zeigt erneut, welche Gefahr von selbsternannten Bürgerwehren ausgeht. Derartige Selbstjustiz ist in keiner Weise zu rechtfertigen und muss bekämpft werden." Innenminister Markus Ulbig müsse endlich konsequent gegen Bürgerwehren vorgehen und das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen. "Dass bei diesen Vorfall offenbar ein CDU-Gemeinderatsmitglied beteiligt war, zeigt, dass die CDU beim Rechtsstaatsverständnis dringend vor der eigenen Haustür kehren muss."

Der Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Anton Hofreiter, sagte, der Vorgang in Arnsdorf "zeigt wieder einmal, dass Rassismus und Menschenfeindlichkeit zu einer traurigen Realität in Sachsen gehören". "Bürgerwehren", die meinten, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, "dürfen wir nicht zulassen". Wenn ein CDU-Mitglied dabei war, zeige das einmal mehr, dass rechte Gewalt bis tief in die Mitte unserer Gesellschaft eingedrungen sei. "Das ist eine dramatische Entwicklung."

Die Rolle der Polizei im Umgang mit der Flüchtlingen war in den vergangenen Monaten in Sachsen immer wieder Thema. Bundesweit Aufsehen erregte der Einsatz der Polizei im Februar in Clausnitz, wo die Polizei ankommende Flüchtlinge nicht wirksam vor einem wütenden Mob schützen konnte. Im Herbst vergangenen Jahres hatte der Revierchef der Polizei Dresden-Prohlis ein Willkommensfest für Flüchtlinge als Provokation von Asylgegnern bezeichnet. Im März vermutete der sächsische SPD-Chef Martin Dulig, der auch Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident im Freistaat ist, in der sächsischen Polizei ausgeprägte Sympathien für AfD und Pegida.

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