"Schmähgedicht" auf Erdogan wieder vor Gericht: Bundesregierung will Merkels Kritik an Böhmermann nicht wiederholen
"Bewusst verletzend", sagte damals die Kanzlerin - und versichert nun im Prozess, sie werde es nie wieder tun. Der TV-Unterhalter fordert dennoch Unterlassung.
Im Prozess von TV-Entertainer Jan Böhmermann gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor dem Verwaltungsgericht Berlin hat sich das Kanzleramt verpflichtet, die Kritik Merkels am umstrittenen „Schmähgedicht“ künftig nicht mehr zu äußern. Merkel hatte die Satire auf den türkischen Staatspräsidenten Erdogan kurz nach der Ausstrahlung von Böhmermanns „Neo Magazin Royale“ im April 2016 als „bewusst verletzend“ bezeichnet. Nach Tagesspiegel-Informationen hat die Bundesregierung dem Entertainer nunmehr zugesichert, sie werde „die streitgegenständliche Aussage nicht mehr wiederholen“.
Eine Bestätigung des Kanzleramts gab es dafür zunächst nicht. Die Regierung äußere sich nicht zu anhängigen Verfahren, hieß es. In dem Rechtsstreit verlangt Böhmermann die Abgabe einer Unterlassungserklärung. Demnach müsste die Regierung die Aussage etwa auf ihrer Webseite „bundesregierung.de“ streichen lassen, wo sie nach wie vor im Protokoll einer Pressekonferenz enthalten ist. Eine mündliche Verhandlung ist für nächsten Dienstag angesetzt. An diesem Tag wird es voraussichtlich auch ein Urteil geben.
"Verletzung der Neutralitätspflicht"
Zwar hatte die Kanzlerin ihre Worte damals wenig später als Fehler bezeichnet, doch „mehrfache Distanzierungen“, wie die Bundesregierung behaupte, hat es nach Ansicht von Böhmermanns Berliner Rechtsanwalt Reiner Geulen nicht gegeben Eine Frist für die geforderte Unterlassung ließ das Kanzleramt verstreichen. Bei der Äußerung handele sich um eine „Verletzung des Sachlichkeitsgebots und der Neutralitätspflicht“. Zudem dauere die „Bedrohungslage“ für Böhmermann, der damals kurzzeitig unter Polizeischutz stand, seit drei Jahren unverändert an.
Böhmermann hatte sich über Erdogan in dem „Schmähgedicht“ mit derben Worten und sexuellen Anspielungen in Versform lustig gemacht, dies aber in eine insgesamt sechsminütige satirische Szene eingebettet. Noch unmittelbar vor der Kritik der Kanzlerin hatte er sich an den damaligen Kanzleramtsminister Peter Altmaier gewandt und auf seine bedrängte Situation nach der Sendung aufmerksam gemacht; eine nationalistische türkische Gruppierung, die „Osmanen Germania“, hatte eine „Bestrafungsaktion“ angekündigt.
Merkel urteilte ohne Kenntnis der entscheidenden Passagen
Böhmermanns Klage zufolge, die dem Tagesspiegel vorliegt, habe die Kanzlerin ihre öffentliche Stellungnahme „ohne Kenntnis der entscheidenden Passagen und des gesamten satirischen Kontextes der in Rede stehenden Sendung des Klägers abgegeben“. Merkel habe vor ihrer Kritik nur einen Beitrag auf „bild.de“ gesehen, der lediglich einen Zusammenschnitt des sogenannten „Schmähgedichts“ enthalten habe, ohne die für die Beurteilung der Sendung entscheidenden Zwischenfragen, Einwürfe und Kommentierungen. „Hierdurch musste der Eindruck entstehen, dass der Kläger lediglich ein ,Schmähgedicht‘ vorgetragen habe, während seine Sendung vielmehr darauf abzielte, Grenzen und Grenzüberschreitungen der Meinungsfreiheit in satirischer Form deutlich zu machen.“
Mit ihren Worten habe die Kanzlerin der Sache nach behauptet, dass der Kläger gegenüber einem ausländischen Staatsoberhaupt mit direktem Vorsatz einen Straftatbestand begangen habe. „Es gab, um es auf den Punkt zu bringen, nicht den geringsten Anlass, dem Kläger – und damit der Freiheit der Presse in Deutschland überhaupt – in den Rücken zu fallen“, heißt es wörtlich in der Klageschrift.
Wie ernst es der Entertainer meinte, teilte Böhmermann auch im Interview mit der „Zeit“ mit: „Die Bundeskanzlerin darf nicht wackeln, wenn es um die Meinungsfreiheit geht“, sagt er da. „Stattdessen hat sie mich filetiert, einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert und einen deutschen Ai Weiwei aus mir gemacht.“
Ermittlungen gegen den Entertainer wurden eingestellt
Tatsächlich war im Anschluss gegen Böhmermann wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts ermittelt worden. Die Ermittlungen wurden im Herbst 2016 mangels Tatverdacht eingestellt. 2017 beschließt der Bundestag im Zuge der Affäre, den sogenannten Majestätsbeleidigungs-Paragrafen 103 aus dem Strafgesetzbuch ganz zu streichen. Das Hamburger Landgericht verbot Böhmermann 2017 allerdings, bestimmte „ehrverletzende“ Verse des Gedichts zu wiederholen. Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) bestätigt das später. Böhmermanns Anwalt kündigte an, Beschwerde beim Bundesgerichtshof (BGH) einlegen zu wollen. Notfalls gehe man bis vor das Bundesverfassungsgericht.
Das Kanzleramt reagiert auf das Thema weiterhin verschlossen. Merkel sagte seinerzeit lediglich, sie ärgere sich selber über ihre Worte, weil dadurch der Eindruck entstanden sei, dass ihre „persönliche Bewertung zu irgendetwas“ eine Rolle spiele. „Das war im Rückblick betrachtet ein Fehler.“
Die Bundesregierung wollte geheim halten, was nicht geheim zu halten war
Die Bundesregierung hatte es damals trotz Anfragen in der Regierungspressekonferenz geheim halten, ob Merkel den Auftritt überhaupt in Gänze gesehen hatte, bevor sie ihn in einem Telefonat mit dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu als „bewusst verletzend“ kritisierte. Die Kanzlerin müsse grundsätzlich keine Angaben zu ihrem Informationsstand im Vorfeld von Regierungsentscheidungen machen, hieß es. Dies gehöre zum „Kernbereich der Exekutive“, der für die Öffentlichkeit verschlossen bleibe.
Nach einer Eilklage des Tagesspiegels haben die Berliner Verwaltungsgerichte dieser Ansicht jedoch widersprochen und Merkel umfassend zur Auskunft verpflichtet (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Az.: 6 S 9.17). Seitdem ist klar, dass die Kanzlerin ihr Urteil nur auf Grundlage eines kurzen Ausschnitts fällte.