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Warum nicht?
© Getty Images/iStockphoto

Streit um Religionsfreiheit: Keine Angst vor dem Kopftuch!

Berlins Neutralitätsgesetz ist höchstwahrscheinlich verfassungswidrig. Nun kommt endlich Bewegung in die Debatte. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Der Staat ist zur religiösen Neutralität verpflichtet. Er darf sich weder auf eine Weltanschauung berufen noch eine bevorzugen. Symbole wie Kreuz, Halbmond oder Davidstern sollten daher nicht in Schulen, Gerichtssälen und Polizeistationen hängen. Keine Tradition entkräftet diese Neutralitätspflicht.

Was aber gilt für die Vertreter des Staates, seinen Repräsentanten? Da wird die Sache kompliziert, weil Freiheitsrechte betroffen sind.

Berlins Justizsenator Dirk Behrendt will es Rechtsreferendarinnen erlauben, wenn sie von ihren Ausbildern begleitet werden, im Gerichtssaal ein Kopftuch zu tragen. Der Vorschlag hat erwartungsgemäß großen Wirbel verursacht.

Staatsdiener, die ihren Glauben offen zur Schau tragen: Das verletze, so heißt es empört, das Neutralitätsgebot. Berlins Neutralitätsgesetz verbietet Lehrern sowie Beamten, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei beschäftigt sind, das Tragen auffallender religiöser Symbole.

Keinen Anspruch von der Wahrnehmung anderer Bekenntnisse verschont zu bleiben

Menschen haben Rechte. Eines davon umfasst die Religionsfreiheit. Sie garantiert, dass der Glaube „allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen“ bekundet werden darf.

So steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dieses Recht darf nur dann eingeschränkt werden, wenn es die Grundrechte anderer Menschen verletzt.

Das Bundesverfassungsgericht hat indes in seinem wegweisenden Urteil aus dem Jahr 2015 festgestellt, dass es keinen Anspruch darauf gibt, „von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben“.

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Wenn der Gesetzgeber dennoch die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit etwa von Lehrern an öffentlichen Schulen einschränkt, muss er die konkrete Gefahr, die davon für den Schulfrieden ausgeht, belegen und begründen. „Das Tragen eines islamischen Kopftuchs begründet eine hinreichend konkrete Gefahr im Regelfall nicht.“ Dasselbe dürfte für Staatsanwälte oder Richter gelten.

Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen), Justizsenator des Landes Berlin, im Abgeordnetenhaus.
Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen), Justizsenator des Landes Berlin, im Abgeordnetenhaus.
© Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa

Seit fünf Jahren also ist es – vorsichtig formuliert – höchst unwahrscheinlich, dass das Berliner Neutralitätsgesetz in seiner derzeitigen pauschalen Form mit der Verfassung übereinstimmt.

Die Zweifel daran hat jüngst auch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts genährt, das einer Muslimin Entschädigung wegen Diskriminierung zugesprochen hatte, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst eingestellt worden war.

[Mehr zum Thema: Staatsanwältinnen mit Kopftuch – könnte das nicht ein Fortschritt sein? Ein Kommentar.]

Doch Berlins Senat bleibt untätig, verharrt wie üblich im Phlegma. Statt endlich das Neutralitätsgesetz zu überarbeiten, werden unendlich oft Entschädigungen gezahlt. Der Vorschlag des Justizsenators mag unausgegoren sein.

Wenn aber die Debatte, die er ausgelöst hat, das Bewusstsein dafür schärft, dass Handlungsbedarf besteht, wäre das Ergebnis als mildernder Umstand zu werten. Immerhin: Der Gang vors Bundesverfassungsgericht soll nun "geprüft" werden.

Ein Zeichen ihres Glaubens

Juristisch ist das Berliner Neutralitätsgesetz kaum zu halten. Deshalb argumentieren dessen Anhänger vorwiegend integrationspolitisch. Sie verweisen auf den Kopftuchzwang in muslimisch geprägten Staaten und auf den Konformitätsdruck in konservativen islamischen Kreisen in Deutschland.

Und sie haben Recht: Beides muss sowohl angeprangert als auch bekämpft werden.

Das Kopftuch aber den einen zu verbieten, um andere davor schützen zu wollen, ist anmaßend und bevormundend. Für in Deutschland lebende Muslima ist es oft ein aus freien Stücken getragenes, identitätsstiftendes Zeichen ihres Glaubens. Diese Haltung verdient Respekt.

Vehement ist der Streit darüber trotzdem. Denn die Verfechter einer strikten Neutralität berufen sich ebenso auf Toleranz, Emanzipation und Selbstbestimmung wie diejenigen, die der Religionsfreiheit ein größeres Gewicht beimessen.

Dabei sollte keiner vergessen: Die meisten in Deutschland lebenden Muslime haben eine Migrationsgeschichte. Ihr Glaube bedeutet ihnen auch ein letztes Stück Herkunftsheimat. Wer sie zwingt, es zu verstecken, nimmt es ihnen.

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