Zwischen der EU und Russland: Bulgarien wählt - und Erdogan lässt mitwählen
Eskalation im Streit mit der Türkei, ein anderer Russland-Kurs, die Flüchtlingsfrage - vor der Wahl am Sonntag spitzen sich in Bulgarien die Konflikte zu.
Militante Grenzblockaden, Protest-Diplomatie und martialische Reden – vor der Wahl in Bulgarien spitzen sich nun jene Konflikte zu, die schon anderswo in Europa zu scharfen Debatten führten. Es geht um Flüchtlinge, Spaltung, vor allem aber die Einmischung aus dem mächtigsten Nachbarland: der Türkei.
Am Sonntag wird im EU-Land Bulgarien ein neues Parlament gewählt – und noch am Freitag hatten Nationalisten einen wichtigen Grenzübergang zur Türkei blockiert. Sie wollen Wähler mit doppelter Staatsangehörigkeit daran hindern, nur zur Stimmabgabe in ihre frühere Heimat zu reisen. Die Nationalisten reagieren so auf die wachsenden Spannungen zwischen Sofia und Ankara.
Der bulgarische Präsident Rumen Radew hatte dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan kürzlich vorgeworfen, sich in den Wahlkampf seines Landes einzumischen. Tatsächlich wurden diese Woche aus der Türkei massenhaft Bulgaro-Türken in Bussen nach Bulgarien gefahren. Mithilfe von Erdogans islamistischer AKP ist in Bulgarien zudem eine neue Partei gegründet worden, die sich zu Ankaras neo-osmanischen Ambitionen bekennt.
Erdogan beschuldigte Bulgarien – ähnlich wie kürzlich auch Deutschland – Türken zu drangsalieren. Bulgarien ist traditionell ein multiethnischer, dennoch slawisch geprägter Balkanstaat: Rund 80 Prozent der Einwohner sind slawische, meist christliche Bulgaren. Dazu kommen einige Griechen, Rumänen, Armenier.
Erdogan operiert auch in Bulgarien
Schätzungsweise zehn Prozent der Einwohner sind Roma, noch mal so viele muslimische Türken. „Die Gräben in der Gesellschaft sind nicht kleiner geworden“, sagt Jesuitenpater Markus Inama. „Und mit der Wahl verbindet sich im Land kaum Hoffnung, Aufbruch schon gar nicht.“ Der Österreicher Inama spricht Bulgarisch und arbeitet für die aus Stuttgart tätige Concordia-Stiftung, die auch für den Tagesspiegel den Sofia-Besuch organisierte.
Noch in den 80er Jahren setzte die bulgarische Regierung die Türken unter Assimilierungsdruck, viele wanderten aus – Hunderttausende in das Nachbarland. Nach der Wende vertrat die vergleichsweise liberale DPS die Interessen der türkischen Minderheit, auch viele Roma wählten diese Partei. Nach zahlreichen Korruptionsfällen verlor die DPS an Vertrauen – was Erdogans AKP vor einem Jahr nutzte. Sie bot Abspaltern in der neuen, von Ankara unterstützten Dost-Partei eine politische Heimat an. Vor allem in der Türkei lebende Bulgaro-Türken wollen für Dost stimmen. Am Sonntag dürfte sie zwar an der Vier-Prozent-Hürde scheitern, langfristig aber als Stütze Ankaras fungieren. Die Türkei hat über transnationale Unternehmen und protürkische Parteien schon im nahen Kosovo, in Albanien und in Bosnien großen Einfluss.
Zur Neuwahl am Sonntag kommt es nach dem Rücktritt der Mitte-Rechts-Regierung unter Premier Bojko Borissow. Der Konservative reagierte auf die Niederlage der Kandidatin seiner Gerb-Partei bei der Präsidentenwahl vergangenen November und tritt nun wieder an.
Bulgaren gegen Russland-Sanktionen
Es ist nun schon die dritte vorgezogene Parlamentswahl in Folge. Bislang stehen mit je 30 Prozent die konservative Gerb und die sozialistische BSP gleichauf. Insgesamt treten 13 Parteien, neun Bündnisse und 21 Unabhängige an. Vor allem die durch Ankaras Intervention geschwächte, von vielen Türken aber noch unterstützte DSP könnte darüber entscheiden, mit wem sie für eine Regierungsbeteiligung koaliert.
Weil Bulgarien 2018 den EU-Vorsitz übernimmt, gilt die Wahl auch als Test für den europäischen Russland-Kurs. Vor allem BSP-Chefin Kornelia Ninowa möchte die Sanktionen gegen Russland beenden. Doch auch die Konservativen um Ex-Premier Borissow suchen mit Russland den Ausgleich – den Kurs der Brüsseler EU-Spitze jedenfalls teilt in Bulgarien fast niemand. Inhaltlich unterscheiden sich die großen Parteien auch in anderen Fragen kaum. Sie stehen vielmehr für verschiedene Netzwerke, die einst von altkommunistischen Funktionären gegründet wurden. Zuweilen unterstützen Anwohner, Unternehmer oder Verbände bestimmte Parteien, weil sie sich davon Zuwendungen, Aufträge und „kurze Dienstwege“ versprechen.
Vor der Wahl weisen auch Reporter ohne Grenzen auf Einschränkungen der Pressefreiheit im Land hin. Wenige Unternehmer besäßen einen Großteil der Medien, es gebe enge Abstimmungen mit Politikern. Auf der Rangliste der Pressefreiheit rutschte Bulgarien in den vergangenen zehn Jahren von Platz 35 auf 113.
Elend in Roma-Vierteln
Im Wahlkampf kaum beachtet wurden die Roma – was eher bedeutet, dass viele von ihnen inzwischen tatsächlich in einer Parallelgesellschaft leben. Dilyana Gyurova, Leiterin des bekannten Concordia-Sozialzentrums in Sofia, sagte vor der Wahl: „Die meisten Roma haben nach der Wende ihre Jobs verloren – und für die meisten Arbeiten werden sie heute nicht mehr gebraucht.“
Mehr als 90 Prozent der Familien, die im Sozialzentrum für ihre Kinder um Hilfe bitten, sind Roma. Viele Familien leben in slumähnlichen Abrissvierteln an den Stadträndern, die Hälfte der Roma- Kinder besuchten die Grundschule nicht bis zu Ende. Dies habe, so berichten Sozialarbeiter, auch mit dem niedrigeren Stellenwert schulischer Bildung in vielen Roma-Familien zu tun. Allerdings seien die Schulen eben auch schlicht schlecht: Bulgaren, die es sich leisten können, sagte Gyurova, schickten ihre Kinder zur Nachhilfe.
Der bulgarische Staat kümmert sich kaum um die Roma, hat aber auch sonst nicht allzu viel zu verteilen. Generell haben Erwerbslose nur begrenzt Anspruch auf Sozialhilfe, maximal 150 Euro im Monat. Außerdem erhält eine Familie für die ersten drei Kinder knapp 20 Euro im Monat. Ab dem vierten Kind sinkt der monatliche Betrag pro Kopf – als Anreiz dafür, es bei wenigen Kindern zu belassen. Roma haben dennoch oft vier, fünf, sechs Kinder.
Viele Roma fürchten sich übrigens derzeit weniger vor bulgarischen Nationalisten als vielmehr vor Flüchtlingen. Mit denen sie, so die Sorge, um knappe Ressourcen konkurrieren müssten. Wer selbst nur im Hof eine Toilette im Holzverschlag hat, berichtet Sozialarbeiterin Gyurova, neidet den Flüchtlingen womöglich die festen Asylunterkünfte.
In Brüssel kennt man die Lage, die EU zahlt schließlich seit dem Beitritt Bulgariens Millionen an das Land. Diplomaten aber schätzen, dass von den investierten EU-Geldern im Mittel bis zu 40 Prozent „korruptiv versickern“. Daran, heißt es von EU-Beamten und bulgarischen Sozialarbeitern gleichermaßen, wird auch die Wahl am Sonntag nur wenig ändern.