Neuwahlen trotz EU-Vorsitz?: Brüssel hat keine Angst vor einem Regierungswechsel in Berlin
Die CDU steckt in der Krise, und Regierungspolitiker warnen auch wegen der kommenden deutschen EU-Präsidentschaft vor Neuwahlen. Zu Unrecht, wie sich zeigt.
Es ist völlig unklar, welchen Ausgang die Führungskrise in der CDU in den kommenden Monaten nimmt. Dass auch vorgezogene Neuwahlen zu den politischen Szenarien gehören, wird auf Ebene der EU aber nicht unbedingt als Katastrophe angesehen. Auch wenn Deutschland im zweiten Halbjahr den EU-Vorsitz übernimmt, könne selbst im Falle von Neuwahlen während dieser Phase „trotzdem gearbeitet werden“, sagt eine EU-Diplomatin.
Die EU-Diplomatin verweist zur Begründung darauf, dass es in der Vergangenheit wiederholt vorgekommen sei, dass EU-Präsidentschaften einzelner Länder dort von regulären oder vorgezogenen Wahlen überschattet wurden. So fanden im Oktober 2011 Parlamentswahlen in Polen statt – während des damaligen Warschauer EU-Vorsitzes. Nach den Worten der Diplomatin ist der politische Spielraum der jeweiligen nationalen EU-Präsidentschaften ohnehin begrenzt, weil ein großer Teil der Agenda bereits durch andere europäische Institutionen wie die EU-Kommission vorgegeben sei.
Das steht in einem gewissen Widerspruch zur Lesart in der Bundesregierung, der zufolge politische Kontinuität im Verlauf des bevorstehenden Jahres vor allem wegen des deutschen EU-Vorsitzes zwischen Anfang Juli und Ende Dezember geboten sei. Unter deutscher Präsidentschaft finden mehrere Großereignisse statt: Im September ist in Leipzig ein EU-China-Gipfel mit den Staats- und Regierungschefs sämtlicher 27 EU-Staaten geplant. Zudem soll in Brüssel im zweiten Halbjahr ein EU-Afrika-Gipfel stattfinden.
EU-China-Gipfel hat große Bedeutung für Deutschland
Eric Maurice von der Denkfabrik Fondation Robert Schuman in Brüssel misst vor allem dem EU-China-Gipfel in Leipzig eine entscheidende Bedeutung für die deutsche Diplomatie zu. „Die Rolle Deutschlands wird vor allem darin bestehen, eigene Interessen zu formulieren und eine gemeinsame Position der 27 EU-Staaten hinzubekommen“, sagt er. Zu den Kernthemen gehört dabei die Frage, inwieweit der chinesische Telekomausrüster Huawei in den Aufbau des neuen 5G-Mobilfunknetzes in den EU-Staaten einbezogen werden soll.
Allerdings liegt die Gestaltung des EU-China-Gipfels nach den Worten von Maurice keineswegs allein in den Händen des kommenden deutschen EU-Vorsitzes. „Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell wird bei dem Gipfel eine wichtige Rolle spielen“, sagt Maurice.
Die Bedeutung der rotierenden EU-Präsidentschaften ist geschrumpft
Ohnehin ist die Bedeutung der alle sechs Monate rotierenden EU-Präsidentschaften erheblich geschrumpft, seit der EU-Vertrag von Lissabon 2009 in Kraft trat. Mit dem Vertrag wurde das Amt des EU-Ratschefs neu geschaffen. Die Aufgabe des EU-Ratschefs ist es seit einem Jahrzehnt, die Tagesordnung der Brüsseler EU-Gipfel festzulegen. Der Belgier Charles Michel, der derzeit als Ratschef amtiert, wird also in diesem Jahr die regelmäßigen Brüsseler Gipfeltreffen vorbereiten – was auch immer in Deutschland demnächst politisch passiert.
„Kanzlerinnendämmerung" wird auch in Brüssel wahrgenommen
Hinzu kommt, dass in Brüssel schon seit geraumer Zeit von einem „fin de règne“ der inzwischen in ihrer vierten Amtszeit regierenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Rede ist – also von einem schleichenden Machtverlust der deutschen Regierungschefin. Tatsächlich hat sich Merkel in der Europapolitik zuletzt weniger exponiert als noch in den Zeiten der Euro- und der Flüchtlingskrise. Die Kanzlerin tritt gegenwärtig auf EU-Ebene eher als Sachwalterin deutscher Interessen – etwa bei den Verhandlungen über den nächsten europäischen Mehrjahreshaushalt – auf und weniger als große Kompromisse-Schmiedin.
Genau diese Aufgabe könnte auf Merkel als dienstälteste Regierungschefin in der EU allerdings zukommen, falls der Streit um das europäische Mehrjahresbudget in der zweiten Jahreshälfte gelöst werden müsste. Für den Fall, dass es den 27 EU-Staaten beim anstehenden EU-Sondergipfel ab dem 20. Februar sowie in den folgenden Wochen nicht gelingt, die durch den Brexit entstehende Lücke im EU-Haushalt zu füllen und einen Ausgleich zwischen Nettozahlern und -empfängern hinzubekommen, wäre deutsches Verhandlungsgeschick in der zweiten Jahreshälfte gefragt.
Deshalb wird die politische Krise in Deutschland in Brüssel auch mit einiger Sorge gesehen. „Zweifellos ist es nicht gut für die gesamte EU, wenn es politische Spannungen gerade in jenem Land gibt, welches gerade den Vorsitz innehat“, sagt ein EU-Diplomat. Dies gelte besonders, wenn es um Herausforderungen wie den dringend benötigten Abschluss beim EU-Budget sowie den von der EU-Kommission geplanten „Green Deal“ gehe.
Es gibt noch ein weiteres Problem, das die EU bis zum Jahresende lösen muss: Weil der britische Premierminister Boris Johnson auf einem engen Zeitplan beharrt, muss voraussichtlich bis zum regulären Brüsseler Gipfel im Oktober die geplante Handelsvereinbarung zwischen der EU und den 27 Mitgliedstaaten im Grundsatz stehen. Hier sind allerdings die Einflussmöglichkeiten für Deutschland im EU-Ratsvorsitz – wer zu diesem Zeitpunkt auch immer die Regierungsgeschäfte in Berlin führen sollte – begrenzt. Denn die Verhandlungen zwischen Brüssel und London laufen nicht über die jeweilige Präsidentschaft der Gemeinschaft, sondern über den europäischen Chefverhandler Michel Barnier.