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Großbritanniens Premierministerin Theresa May in Berlin
© imago/Thomas Trutschel/photothek/

Großbritannien und der Brexit: Briten zwischen Mitleid und Verachtung für May

Großbritannien dilettiert weiter beim Brexit. Premierministerin May sucht Entgegenkommen bei den Verbündeten und verliert daheim an Vertrauen.

Beherrscht und äußerlich unbeirrt wie immer hat die britische Premierministerin am Dienstag ihre kurzfristig anberaumte Europa-Reise absolviert. Bei Besuchen in Den Haag, Berlin und Brüssel wollte Theresa May ausloten, ob ihr die Verbündeten beim Brexit entgegenkommen können. Unterdessen wurde die Regierungschefin im Londoner Unterhaus erneut scharf dafür getadelt, dass sie am Montag die geplante Abstimmung über den eigentlich vereinbarten EU-Austrittsvertrag verschoben hatte. Die Labour-Opposition erwägt nun einen Misstrauensantrag gegen die Regierung.

Vor ihrem Zusammentreffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel erlitt May ein Missgeschick: Kurzzeitig ließ sich die Tür ihrer Limousine nicht öffnen. Allem fröhlichen Lächeln beim anschließenden Händedruck zum Trotz hätte die Szene symbolhafter für ihre derzeitige Lage kaum sein können. Eingesperrt zwischen den unvereinbaren Brexit-Ultras und EU-Freunden in ihrer eigenen Partei, unter Druck von der Opposition im Unterhaus und in den Regionen des Landes, gejagt von Tory-Rivalen, die an ihrem Stuhl sägen – für die Premierministerin scheint es politisch kaum noch einen Ausweg zu geben.

In London schwankt die Stimmung gegenüber der 62-Jährigen zwischen Mitleid und Verachtung. Die Londoner Zeitungen gaben am Dienstag morgen mit ihren Schlagzeilen den Ton der Debatte vor. „Mays letzter Versuch“, titelte „Daily Mail“, „May fleht in Europa um Hilfe“, lautete das Fazit der „Times“, „May läuft davon“, schrieb der „Daily Mirror“. Wenig ausrichtsreich schienen die Versuche, auf dem Kontinent für eine Neuausrichtung des Vertrages zu werben – jedenfalls nach den Vorab-Statements von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu urteilen. Für Neuverhandlungen gebe es keinen Spielraum, teilte dieser kategorisch mit. Höchstens „Klärungen“ wollen die EU-Partner versuchen, um May zu Hilfe zu kommen.

Das dürfte all jenen zu wenig sein, die sich vor allem an der sogenannten Auffanglösung (backstop) für Nordirland stören. Sie soll die grüne Insel davor bewahren, dass die derzeit kaum noch spürbare Grenze zwischen der Republik im Süden und der britischen Provinz zu einer harten EU-Außengrenze wird. Deshalb kann der backstop nur im beiderseitigen Einvernehmen zwischen Brüssel und London gekündigt werden – eine Einschränkung britischer Souveränität, die dem Bürgerkrieg des vergangenen Jahrhunderts mit mehr als 3500 Toten und Zehntausenden von Verletzten geschuldet ist. „Wir lassen Irland nicht im Stich“, bekräftigte Juncker am Dienstag.

Vergeblich hat May immer wieder darauf verwiesen, dass der backstop für beide Seiten unangenehm ist. Dies erneut zu betonen und den festen Willen für eine Einigung während der Übergangsphase bis Ende 2020 zu bekunden, dürfte das Äußerste sein, was die Premierministerin aus Brüssel an Zugeständnis mitbringt.

Nur Angst vor Corbyn hält die Torys noch notdürftig zusammen

Im Unterhaus wird sie damit wenig Erfolg erzielen. Mehr als 22 Stunden netto hat die Premierministerin in den vergangenen zwei Monaten dem Parlament Rede und Antwort gestanden, haben eifrige Statistiker an Mays Amtssitz in der Downing Street errechnet. Tatsächlich gab es zuletzt jede Woche, manchmal mehrere Tage in Folge, die Gelegenheit für Abgeordnete aller Fraktionen, verbal auf die 62-Jährige einzuprügeln. Auch am Montagnachmittag musste sich May beinahe drei Stunden lang die Empörung von allen Seiten gefallen lassen.

Man könne ihr „ohnehin nichts mehr glauben“, schnaubt der Fraktionschef der nordirischen Protestantenpartei DUP, Nigel Dodds. „Das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit“ seiner Parteichefin seien verlorengegangen, behauptet Andrew Bridgen, einer jener rund 30 Tory-Abgeordneten, die May bereits schriftlich ihr Misstrauen ausgesprochen haben. Allen verächtlichen Fragen, allen Beleidigungen zum Trotz blieb die Premierministerin stets beherrscht und höflich. Ob dies Teil ihres Problems ist?

Nicht ein einziges Mal hat May in den letzten Wochen die Gelegenheit zu einer Konfrontation mit einem der Brexit-Ultras genutzt. Stets appelliert sie nur ganz allgemein an das „Verantwortungsbewusstsein“ der Parlamentarier – von ihren Parteifreunden erntet sie nur noch resignierte Bewunderung für ihr Stehvermögen oder glatte Verachtung. Lediglich die Angst vor Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn hält die Torys noch notdürftig zusammen.

Der 69-jährige langjährige Hinterbänkler eröffnete am Dienstag eine Sonderdebatte des Unterhauses mit der fröhlichen Bemerkung, in seinen 35 Parlamentsjahren habe er „immer wieder scharfe Meinungsunterschiede mit dem jeweiligen Premierminister“ gehabt. Nie aber sei er Zeuge eines so „schlimmen Durcheinanders“ geworden wie am Montag, sagte Corbyn. „Die Premierministerin läuft vor ihrer Verantwortung davon.“

Freilich gibt es in der eigenen Partei und bei anderen Oppositionsgruppen viele, die Corbyn dasselbe nachsagen. Am Montagabend richteten mehr als 60 Abgeordnete einen dringenden Appell an den Labour-Vorsitzenden: Die Zeit sei nun gekommen für einen Misstrauensantrag gegen die konservative Minderheitsregierung. Der Forderung schlossen sich die kleineren Parteien an, angeführt von der Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Das „Tohuwabohu in Westminster“ könne nicht weitergehen, findet die Vorsitzende der schottischen Nationalpartei SNP.

Dass sich Corbyn und seine Getreuen einstweilen zieren, hat einen einfachen Grund. Im Fall eines Misstrauensantrags hat die nordirische DUP der ungeliebten Premierministerin die Unterstützung zugesagt, die Abstimmung würde für die Opposition also verlorengehen. Der auf dem jüngsten Parteitag beschlossenen Strategie zufolge müsste sich Labour dann geschlossen der Forderung nach einem zweiten Referendum anschließen. Genau dies will der heimliche Brexiteer Corbyn vermeiden.

Und so bleibt die Premierministerin einstweilen im Amt. „Bis zum 21. Januar“, so gab es die Regierung am Dienstag bekannt, werde das britische Parlament auf jeden Fall zur Abstimmung gebeten.

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