Sozialdemokraten entscheiden über Führung: Bringt die SPD-Basis die große Koalition ins Wackeln?
Sollten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die SPD-Spitze übernehmen, droht die Koalition zu kippen. Das hätte Auswirkung auf Deutschland und die EU.
Selten war eine Entscheidung von großer Tragweite so offen wie nun der Ausgang der SPD-Urabstimmung über die neue Parteiführung. Denn es geht dabei um Wohl und Wehe der SPD, aber es geht auch um die Zukunft der großen Koalition und damit um die Verlässlichkeit und Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Europäischen Union.
Viele in Europa schauen auf die Regierung des bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Landes, im zweiten Halbjahr 2020 wartet die EU-Ratspräsidentschaft auf die Deutschen. In einer Zeit grundlegender Herausforderungen galt das Berliner politische System Beobachtern im In- und Ausland bislang als Anker der Stabilität. Das könnte sich ändern.
In Umfragen unter SPD-Sympathisanten liegen die Brandenburgerin Klara Geywitz und Vizekanzler Olaf Scholz deutlich vor der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken und dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans. Aber 40 Prozent der Befragten trauten sich kein Urteil zu, wer die bessere SPD-Führung abgeben werde.
Noch schwerer wiegt: Die Demoskopen haben zwar SPD-Anhänger befragt. Die SPD-Mitglieder haben sie aber nicht befragen können. Das verhindern die strengen deutschen Datenschutzrichtlinien. Und die Genossen sind eigen. Auch wenn es einige Indizien dafür gibt, dass Geywitz und Scholz mehr Anhänger in der Partei haben, ist unklar, ob sie diese tatsächlich dazu bewegen können, ihre Stimmen abzugeben. Es werde eine knappe Entscheidung geben, erwarten viele in der SPD.
Unspektakulär wäre ein Erfolg von Scholz/Geywitz
Im ersten Durchgang der Urabstimmung über die Parteiführung lag die Wahlbeteiligung knapp über 50 Prozent. Sollte sie weiter sinken, könnte das den Herausforderern helfen. Denn ihr Anhänger sind motiviert, wollen ihren Willen kundtun und durchsetzen. Esken und Borjans haben sich als Kritiker der großen Koalition profiliert.
Der unspektakulärere Ausgang der Wahl wäre: Geywitz und Scholz setzen sich durch. Als Befürworter der Regierungsarbeit würden sie dem SPD-Parteitag Anfang Dezember vorschlagen, die große Koalition fortzusetzen. Ein Aufstand der Parteitagsdelegierten gegen die Entscheidung der Mitglieder wäre eine Überraschung.
Union und SPD könnten voraussichtlich die volle Legislaturperiode bis 2021 weiterregieren. Die offene Frage bliebe: Können Geywitz und Scholz die gespaltene Sozialdemokratie wieder mit sich selbst versöhnen? Selbst wenn die Antwort ausbliebe, hätte das auf nationaler und europäischer Ebene keine kurzfristigen Auswirkungen.
Der spektakuläre Ausgang der Wahl wäre: Esken und Borjans gewinnen die Mehrheit. Trotz aller kritischen Töne gegen das Regierungsbündnis mit der Union hatten die Herausforderer zuletzt erklärt, sie wollten die große Koalition „nicht fluchtartig verlassen“ (Esken). Beide haben Forderungen aufgestellt: Sie wollen den Koalitionsvertrag nachverhandeln, das Klimapaket aufschnüren und verschärfen, Milliardeninvestitionen in Straßen, Brücken, Schulen und Klimaschutz sowie eine sofortige Erhöhung des Mindestlohnes auf zwölf Euro.
Und was macht die Union?
Wahrscheinliches Szenario: Als designierte Vorsitzende schlagen sie dem SPD-Parteitag einen Kriterienkatalog vor, den die SPD der Union präsentieren soll. Den Weiterbestand der großen Koalition machen sie davon abhängig, dass die Union diese Forderungen erfüllt. Würde der Parteitag den Katalog aufweichen, müsste er bewusst seine neue Führung beschädigen.
Also werden die neuen SPD-Chefs Esken und Borjans in diesem Fall voraussichtlich mit dem Mandat des Parteitags das Gespräch mit der CDU und CSU suchen. Dass diese beiden Parteien auf ihre deutlich linkeren Forderungen eingehen, ist unwahrscheinlich. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich festgelegt: Mit ihr wird es keine Nachverhandlungen der Koalitionsvertrages geben.
Werden die SPD-Forderungen von der Union abgeschmettert, müssen Esken und Borjans reagieren. Dann „werden wir der Partei den geordneten Rückzug vorschlagen“ (Esken). Sie könnten die große Koalition für gescheitert erklären, die SPD-Minister und -Staatssekretäre abziehen. Immer wieder haben die beiden die Möglichkeit einer von der Union geführten Minderheitsregierung ausgemalt.
Wie die SPD sich aus dem Spiel nehmen könnte
Die SPD würde gleichsam nur noch am Rande des politischen Spielfelds stehen und passiv zusehen, für welche Aufstellung der Regierung sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU), CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer und CSU-Chef Markus Söder dann entscheiden.
Ein enger Vertrauter von Finanzminister Scholz, sein Staatssekretär Wolfgang Schmidt, hat diese Woche in den sozialen Netzwerken ein Szenario ausgebreitet, das plausibel ist. Zwei Argumente für eine weiter von Merkel geführte Minderheitsregierung zählt er auf. Das erste: Der Haushalt ist gerade verabschiedet worden, rund ein Jahr lang hätte ein Kabinett nur aus Unionspolitikern Handlungsfreiheit.
Das zweite: Am 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Merkel will in enger Tuchfühlung mit der neuen Kommissionchefin Ursula von der Leyen die Gemeinschaft stärken und fit für die Zukunft machen, die durch den Brexit geschwächt werden dürfte und in der manche Länder eigene Interessen auf Kosten der Gemeinschaft verfolgen. Käme es vorher zu Neuwahlen, wäre Deutschland monatelang politisch gelähmt und nicht vorbereitet auf die EU-Präsidentschaft.
Erst 2021, so lautet Schmidts Überlegung, könnte Merkel dann versuchen, Neuwahlen herbeizuführen. Erst dann käme der Bundespräsident ins Spiel und müsste entscheiden, ob er nach einer von der Kanzlerin im Bundestag herbeigeführten und verlorenen Vertrauensfrage Neuwahlen ausrufen will.
Eine zweite Variante wäre: Merkel bietet unmittelbar nach einem SPD-Ausstieg oder auch erst Anfang 2021 FDP und Grünen eine Regierungsbeteiligung an. Beide Parteien dürften eher Interesse an Neuwahlen als an der Rolle der Retter einer gescheiterten Regierung zeigen.
Die Entscheidung ist schon gefallen, wenn dieser Text erscheint. Die SPD-Mitglieder haben gewählt, die Abgabefrist endete um Mitternacht. Nun muss nur noch ausgezählt werden. Gegen 18 Uhr soll das Ergebnis bekannt gegeben werden.
Wenn Geywitz und Scholz verlieren, könnte am Montag womöglich sogar der Dax reagieren. Ein Kurssprung ist dann allerdings nicht zu erwarten.
Hans Monath