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Marina Owsjannikowa.
© IMAGO/ITAR-TASS

Der Westen bewundert die russische Journalistin: Braucht es mehr Mutige wie Marina Owsjannikowa?

Die Journalistin hat sich im Fernsehen gegen Putin gestellt und damit ihre Zukunft riskiert. Über Opfermutige in unserer Gesellschaft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Sie hätte das nicht tun müssen. Sie hätte auch am Montag weiter normal ihrer Arbeit beim russischen Staatssender „Erster Kanal“ nachgehen und ihren Ärger, ihre Wut oder Verzweiflung über die Lage und die Lügen herunterschlucken können. Aber das tat sie nicht.

Marina Owsjannikowa beschloss, sich einer unberechenbaren Justiz auszuliefern, jahrelange Unfreiheit, Hunger, Durst, Quälereien und womöglich auch das spätere Bedauern ihres selbstschädigenden Schritts zu riskieren. Sie schrieb „No War! Glauben Sie der Propaganda nicht“ auf ein Schild und störte damit die Hauptnachrichtensendung.

Das Feedback aus dem Westen – so mutig, eine Heldin – war einmütig und bewundernd, wie immer, wenn es um den Widerstand gegen das Gewaltregime von Wladimir Putin geht. Und in Deutschland auch ein bisschen befremdet. Warum riskiert eine Russin für den einen Moment Aufmerksamkeit im Fernsehen ihre gesamte Zukunft? Warum ziehen Ukrainer in einen Häuserkampf, den sie gegen eine überlegene Armee nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nicht gewinnen können? Warum setzen sie sich dem Risiko aus, angeschossen, von Splittern zerfetzt, getötet zu werden?

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Solche Fragen kommen sonst kaum vor in einer Gesellschaft wie der deutschen, die das Prädikat „post-heroisch“ gern und selbstbewusst trägt und die Helden allein im Sport noch zu feiern bereit ist. Solche Fragen stellen den rhetorischen Kniff der vielen Sonntagsreden bloß, die das „Kämpfen“ für was auch immer predigen – die Demokratie, die Gerechtigkeit, die Menschenrechte –, indem sie „Kämpfen“ mit der Möglichkeit persönlich-leibhaftiger Betroffenheit verknüpfen.

Solche Fragen scheuchen auf. Denn dem Lebensgefühl in freien, sicheren Demokratien, die nichts höher bewerten als das individuelle Leben, entspricht als Antwort auf ein „Was wäre ich bereit in einem Kampf zu riskieren?“ noch am ehesten ein „Nicht allzu viel.“

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Es gibt nach dem Postheroismus-Theoretiker Herfried Münkler in diesen Staatsformen keinen Raum für menschliche Leidens- und Opferbereitschaft. Heldenmutige stellen sich in die erste Reihe und über die Sache, sie stehen schnell im Verdacht, ein unkontrollierbarer Egotrip zu werden. Opfermutige stellen sich auch in den Dienst der Sache, sie treten aber zurück. Marina Owsjannikowa etwa oder die vielen Menschen in Charkiw, Mariupol, Kiew, die Barrikaden gegen feindliches Militär errichten

Sie alle hatten die Wahl, anders zu reagieren, Schaden für sich zu minimieren. Sie hätten ihre Sachen packen und die Stadt, das Land verlassen können. Aber sie sind geblieben, um etwas zu verteidigen, das sie für größer halten als sich selbst. Und sie werden damit auch selbst größer. Vielleicht deshalb erging als erstes Urteil ein mildes gegen Owsjannikowa. Womit der Fall aber nicht erledigt ist.
Eine Frage, die an Heldentaten anschließt, lautet: Was würde ich tun? Und deren Wucht kann das eigene Leben in Zweifel ziehen. Zugleich gibt es auch den Vorwurf, dass zu viele Opfermutige eine Lösung erschweren. Denn: Wie soll man je einen Kompromiss finden, wenn im Kampf so viel gelitten wurde? Sterben am Ende wegen der Opfermutigen immer nur noch mehr Menschen? Solche Überlegungen übersehen jedoch etwas.

Wenn sich einem Aggressor keine Opfermutigen in den Weg stellen, gibt es gar keine Kompromisse, dann bleibt oft nur Aufgeben.

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