zum Hauptinhalt
Für ein Altern in Würde. Demonstranten vor dem Tagungsort des Deutschen Pflegetages in Berlin-Tempelhof.
© DAVIDS

Personalmangel in der Pflege: Branche warnt vor dem Kollaps

Mit ehrgeizigen Reformen versucht die Politik die Situation von Pflegebedürftigen verbessern. Doch dazu braucht es, wie auf dem Pflegetag in Berlin deutlich wurde, dringend mehr Personal.

Ob der direkte Vergleich mit der Kabinettskollegin den Gesundheitsminister beflügelt? Hermann Gröhe solle sich gefälligst ein Beispiel an Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nehmen, meint Pflegerats-Präsident Andreas Westerfellhaus. Die CDU-Politikerin habe es über Nacht geschafft, für ihre Bundeswehr ein Attraktivitätssteigerungsgesetz auf den Weg zu bringen.

In der Pflege dagegen nehme es die Politik hin, dass chronischer Personalmangel die Beschäftigten auslauge und Patienten gefährde. Im angeblich besten Gesundheitssystem der Welt genüge inzwischen schon „eine banale Grippewelle“, damit ganze Klinikabteilungen geschlossen werden müssten.

Laumann: Jahre des Stillstands sind vorbei

Und Gröhe? Ist schon mal nicht präsent bei der Eröffnung des Deutschen Pflegetages im Tempelhofer Flughafengebäude. Dafür hat er seinen Staatssekretär geschickt, der auch Pflegebeauftragter ist und auf diesem Posten nicht eben durch Leisetreterei auffällt.

Und Karl-Josef Laumann gibt den Kritikern Paroli. „Die Jahre des Stillstands sind vorbei“, versichert er. Man werde die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern und sie „zukunftsfest“ machen. Durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, durch Entlastung pflegender Angehöriger, durch eine generalisierte Ausbildung, bei der nicht mehr von vornherein zwischen Alten- und Krankenpflege unterschieden wird.

"Kästchendenken" in der Pflege beenden

Noch im Sommer, so sagt Laumann, werde das Ministerium einen Referentenentwurf vorlegen, der „das Kästchendenken“ in der Pflege beende. Und schon „in wenigen Wochen“ werde die zweite Stufe der Großreform, von der manche orakelt hatten, dass sie niemals komme, gezündet.

Der neue Pflegebegriff werde mit seinem Abschied von der Satt-und-Sauber-Pflege derartige Veränderungen bewirken, dass man – um ihn 2017 Gesetz werden zu lassen – ein gutes Jahr zur Umstellung eingeplant habe. Und mit dem versprochenen Förderprogramm für mehr Pflegestellen in Kliniken werde sich die Koalition auch nicht begnügen.

Bessere Pflegeschlüssel für Kliniken?

„Die 660 Millionen Euro allein können nicht die Lösung sein“, sagte Laumann. Man werde auch untersuchen, inwieweit die drastisch gestiegene Fallzahl von Klinikpatienten mit Mehrfacherkrankungen und höherem Alter im geltenden Fallpauschalensystem abgebildet sei. Schließlich benötige ein Demenzkranker nach ein und derselben Operation ganz andere Betreuung als ein 25-Jähriger. Für künftige Personalschlüssel bringe eine solche Klarstellung „viel mehr“ als einmalig gewährte Fördermillionen, sagte der CDU-Politiker.

Zuvor hatte der Pflegerats-Chef vorgerechnet, dass das Förderprogramm jedem Klinikum grade mal 1,4 Zusatzstellen beschert. „Das merkt vor Ort kaum einer.“ Die 50 000 Vollzeitstellen, die man durch die Ökonomisierung allein zwischen 2007 und 2009 verloren habe, seien so nicht zu kompensieren.

Zahl der Pflegebedürftigen verdoppelt sich bis 2050

Vor allem stellt sich die Frage, wo die Pflegekräfte herzukriegen sind. Gelingen könne die schöne Reform mit all ihren Leistungsverbesserungen am Ende nur durch genügend Personal, gibt auch Laumann zu. Und da wird es immer enger.

Laut Statistischem Bundesamt gab es Ende 2013 hierzulande 2,63 Millionen Pflegebedürftige. In 35 Jahren werde sich ihre Zahl fast verdoppelt haben, sagt der Chef des AOK-Bundesverbandes, Jürgen Graalmann. Und selbst wenn sich entsprechend mehr Pflegeprofis fänden: Sie müssten auch einen Gutteil derer ersetzen, die ihre Angehörigen bisher selber pflegen.

Bereitschaft zur Angehörigenpflege sinkt

Das bisherige Potenzial pflegebereiter Angehöriger werde bis 2050 um knapp ein Drittel schmelzen, prognostiziert der Kassenchef - zum Beispiel, weil man davon ausgehen müsse, dass künftig deutlich mehr Frauen - die bisher das Gros der Pflegenden stellen - berufstätig seien. 1,7 Millionen Menschen pflegen derzeit ihre Angehörigen zuhause – 1,25 Millionen ohne jede andere Hilfe.

Viel Diskussionsstoff für die 4000 Teilnehmer des großen Branchentreffens, das noch bis Samstag dauert. Laumann setzt auf bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung des Personals, insbesondere in der Altenpflege, räumt aber ein, dass die Politik hier nur „flankierend“ tätig sein könne.

AOK-Chef: Kommunen drücken die Preise

Der AOK-Chef wiederum gibt den Kommunen die Schuld für Dumpinglöhne. Deren Druck auf die Preisverhandlungen als Sozialhilfeträger sei immens, sagt er. Und bricht eine Lanze für den „größten Pflegedienst Deutschlands“ – der praktischerweise auch der preisgünstigste ist.

Den Mindestlohn zugrunde gelegt, betrage die durch Angehörigenpflege erzielte Wertschöpfung 29 Milliarden Euro im Jahr, rechnete Graalmann vor – sechs Milliarden mehr, als die gesetzliche Pflegeversicherung insgesamt ausgibt.

Die Folgerung des Kassenchefs: Ohne stärkere Unterstützung dieser Angehörigen geht kaum was. Sie bräuchten, so forderte er, dringend weitere Entlastungsangebote. Und eine intensivere Beratung, auf die es aus AOK-Sicht dann auch einen Rechtsanspruch geben sollte.

Zur Startseite