Europabesuch des US-Präsidenten: Bidens Mission ist nichts weniger als die Rettung der Demokratie
Der US-Präsident steht vor einer innenpolitischen Mega-Aufgabe. Und nicht nur er. Demokratieverfall ist überall. Eine Analyse zu Bidens Europabesuch.
Cathryn Clüver Ashbrook ist Politikwissenschaftlerin. Im Juni übernimmt sie das Amt der Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
US-Präsident Joe Biden kommt wie von vielen erhofft zu seinem ersten, großen Auslandsbesuch nach Europa – und doch bleibt sein Augenmerk auf den Dingen zu Hause. Biden will sich pünktlich zum Start der Fußball-Europameisterschaft in Europa die Manndeckung suchen, die er braucht, um sein Land von innen heraus zu stärken. Denn selbst wenn seine Berater öffentlich nahelegen wollen, es gehe beim Gipfelmarathon in London, Cornwall, Brüssel und Genf um die fünf "Cs" (Covid, Climate, China, Cyber, Corruption), geht es Biden vor allem um ein großes "D": Demokratie.
Das hat er in einem Meinungsartikel in der "Washington Post" jüngst noch einmal überdeutlich gemacht: Kern der Gespräche mit weit mehr als 30 Staats- und Regierungschefs und dem Autokraten Wladimir Putin in Genf müsse sein, nachhaltig zu unterstreichen, dass (nur) die Weltdemokratien es vermögen, Herausforderungen zügig zu begegnen und die Bedrohungen des neuen Zeitalters abzuwenden.
Damit trägt Biden neuen Realitäten Rechnung: Die Wirtschaftsmacht China mit ihrem effizienten wie bisweilen skrupellosen Führungssystem um Xi Jinping ist ein neuartiger Rivale, mit dem sich multilaterale Organisationen anders als einst mit der Sowjetunion auseinandersetzen müssen. Und anders als nach Ende des Kalten Kriegs in den 1990er Jahren müssen die USA nun erst zu Hause nacharbeiten.
Das demokratische Fundament der Nato wankt
Die Tatsache, dass sich in Umfragen in Europa eine Art Äquidistanz im Verhältnis zu China und den USA einzuschleichen scheint, macht Biden Sorgen. Laut dem German Marshall Fund sehen gerade mal 51 Prozent der Deutschen die USA als verlässlichen Partner. Dazu kommt die Unzufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie – ein Phänomen, das sich in den USA beharrlich zu halten scheint und Amerikaner mit den Deutschen eint, die wiederum im "Zeitalter der Selbstgefälligkeit" leben und an der Wahlurne mit Parteien am rechten Rand liebäugeln – schlimmer noch: Sie in den Bundestag wählen.
Dass das demokratische Fundament der Nato wankt, siehe auch Ungarn, Polen und Türkei, ist belegt. Emmanuel Macrons Bestrebungen zur Modernisierung der französischen Demokratie werden "abgewatscht", und er begibt sich in einen harten Wahlkampf gegen Rechts.
Auch das Aufatmen nach der Wahl in Sachsen-Anhalt wird kurz sein. Darauf deuten Warnungen der Verfassungsschutz- und Bundesnachrichtendienstpräsidenten der vergangenen Woche hin, denen zufolge die größte innenpolitische Bedrohung für Deutschland – wie in den USA – aus rechtsextremen Kreisen komme und das Land auf das neuartig-aggressive Eingreifen Russlands und Chinas durch Desinformation und mögliche Cyberattacken vor der Bundestagswahl nicht ausreichend vorbereitet sei. Das alles sollte Europäer also mit Biden einen. Demokratieverfall ist überall.
Am 6. Januar war das auch so: Der US-Präsident, der damals noch Donald Trump hieß, rief zur massiven Behinderung des ureigenen demokratischen Prozesses auf, der eigentlichen Präsidentenwahl. Wenn sieben Monate nach einer Wahl 65 Prozent der republikanischen Wähler immer noch meinen, Joe Biden sei nur wegen groß angelegter Wahlmanipulation im Amt, wenn gar fast 20 Prozent meinen, er sei gar nicht Präsident, und sich die von Trump propagierte Lüge über die Unrechtmäßigkeit der Wahlen nun wieder schneller verbreitet als je zuvor, wenn Republikaner einen Untersuchungsausschuss zum 6. Januar ablehnen und stattdessen in mehr als 40 Staaten neue Gesetze zur Beschneidung des Wahlrechts gerade für Minderheiten anstreben, dann bleiben die USA weiterhin in einer prekären Lage.
Bidens Nationaler Sicherheitsberater sieht die Demokratiekrise der USA als Gefahr
So wundert es dann auch nicht, dass der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan in der Pressekonferenz zur Europareise mehrfach von Journalisten gefragt wurde, ob der schwache Zustand der amerikanischen Demokratie ein nationales Sicherheitsrisiko sei.
"Ja", so Sullivan zweimal, "wenn wir es nicht schaffen, unsere eigenen demokratischen Prozesse dahingehend zu erneuern, dass wir den Herausforderungen des modernen Moments nicht gerecht werden, dann können wir dem Rest der Welt keine Beweise liefern – weder China, noch Russland noch irgendwem anderen." Die Pax Americana könnte gefährdet sein, weil innenpolitisch ein Basiskampf um die amerikanische Demokratie herrscht.
Der Demokratie-Gipfel, den Biden für den Herbst ansetzen wollte, findet also nicht erst dann statt, sondern in Teilen schon in den nächsten vier Tagen. Biden bemüht vornehmlich das China-Motiv, um sich den größten überparteilichen außenpolitischen Konsens innenpolitisch zu Nutze zu machen. Das nennt man Politik.
Wird Europa bei dieser Feindbild-Taktik nahtlos mitgehen können? Nein – dazu ist das wirtschaftliche Profil der EU und Großbritannien zu divers, die Bevölkerungen sind anders gepolt. Und China wird multilateral gebraucht.
Es wird in den nächsten Tagen gelten, einen demokratischen Schulterschluss zu proben, der über das transatlantische Bündnis hinausgeht. Das ist strategisch klug. Neben der vielgefeierten Unternehmenssteuer sitzen die G7-Sherpas seit Wochen an dem Abschluss-Kommuniqué zu konkreten Fortschritten in der Handels- und Technologiepolitik. Andererseits muss es aber auch darum gehen, schnell neue transatlantische Realitäten zu schaffen, die dem erweiterten Demokratie-Gedanken wieder mehr Leben einhauchen: Sicherheit, Wohlstand, Innovation und persönliche Freiheiten ermöglichen.
Es geht um die fünf "Cs" aus der Biden-Beraterkiste
Und da sind sie dann wieder, die fünf "Cs" aus der Biden-Beraterkiste: Covid, Climate, China, Cyber, Corruption. Klar, die USA müssen hier in Vorlage gehen. Die Bringschuld ist nach den vier Jahren Trump deutlich, aber Europa muss bis zum Wochenende einiges zusagen können – und das dann gemeinsam ausführen. Das wollen übrigens auch Europas Bürger, wie eine neue Studie des Thinktanks "European Council on Foreign Relations" belegt. Mit dem Wählerwillen im Auge braucht es ein neues, strategisches Konzept für die Nato, mehr Leistungsfähigkeit in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Biden sei gewillt, das Zwei-Prozent-Ziel anders zu denken, so Berater im Vorfeld. Außerdem will er Industriezölle sinken sehen, Boeing-Airbus wird verhandelt, auch der Streit über Nordstream 2 soll über eigene, diplomatische Verhandlungswege geordneter ausgetragen werden.
Biden reist mit einem 250-Milliarden-Dollar-Innovationspaket in der Tasche nach Europa. Schafft es die EU – und auch die neue Bundesregierung –, sich nicht vorzeitig Sparzwängen hinzugeben, sondern weiter strategisch die Post-Covid-Ausgaben anzukurbeln, um sowohl für das eigene Wachstum zu sorgen, aber auch gemeinsam mit den USA den nötigen Kontrapunkt gegen China zu setzen?
Auch wenn Skeptiker es meinen: Europa wird nicht zum "Flyover-Country" des US-Präsidenten werden, wenn er sich weiterhin auf den Wettkampf mit China einschießt. Er braucht die Leistungsfähigkeit der europäischen Demokratien als argumentatorische und funktionale Grundlage – auch für den innenpolitischen Kampf zu Hause.
Europa muss diesem Präsidenten den Rücken freihalten, wiederum im Eigeninteresse. Es gibt und gilt vieles, gemeinsames anzugehen und zwar schnell. Es wird nicht einfach, es wird mitunter nicht billig, aber es ist es wert – im Sinne der konkreten Beweisführung für unsere Demokratien.
Cathryn Clüver Ashbrook