Nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburg: Der Streit, den alle erwartet und alle gefürchtet haben
Die Reaktionen von Republikanern wie Demokraten nach dem Tod von Richterin Ginsburg zeigen: Die US-Demokratie ist inzwischen höchst fragil. Ein Kommentar.
Nachdem der US-amerikanische Supreme Court den Tod der 87-jährigen Ikone Ruth Bader Ginsburg bekanntgegeben hatte, dauerte es keine Stunde, bis Chuck Schumer, Chef der Demokraten im Senat, auf Twitter jenen politischen Streit vom Zaun brach, den alle erwartet und gefürchtet hatten.
Dürfen, können, sollen Donald Trump und der mehrheitlich republikanische Senat so kurz vor dem Wahltag am 3. November und nachdem die Stimmabgabe in einigen Bundesstaaten schon begonnen hat, noch einen Richter oder eine Richterin bestimmen und damit die konservative Mehrheit im Obersten Gericht weiter festigen? Verstößt das gegen die ungeschriebenen Regeln der politischen Kultur? Und welche sind das eigentlich gerade?
Der Streit zeigt wieder einmal, wie fragil eine Demokratie ist, deren politische Kultur zersetzt ist, deren ungeschriebene Regeln politischen Verhaltens zur Verhandlungssache geworden sind – und zwar bis zur Unkenntlichkeit.
Formal rechtlich setzt die amerikanische Verfassung den Prozess der Richterbenennung wie folgt fest (mit wie so oft nur dürren Worten): Der Präsident hat das Recht, Personen für das höchste Richteramt vorzuschlagen und nach Beratung und Zustimmung des Senats auch zu benennen.
Der Senat kann diese Kandidaten also zurückweisen, auch, wenn er das über lange Zeit nur sehr selten tat. Die Regeln, wie diese „Beratung und Zustimmung“ im Senat aussieht, gibt sich die Parlamentskammer selbst. Deshalb konnte das Verfahren in jüngerer Zeit politisch instrumentalisiert werden.
Mit der zunehmenden politischen Polarisierung der USA wurde auch der Kampf um die höchsten Richterämter immer schärfer. Donald Trump trat explizit mit dem Versprechen an seine konservativen und religiösen Wähler an, eine konservative Mehrheit im höchsten Gericht der USA festzuschreiben (auf lange Zeit, denn die Richter werden auf Lebenszeit bestimmt).
Er schürte so die lang gehegte Hoffnung, die rechtliche Liberalisierung der Abtreibung rückgängig zu machen und das maßgebliche Urteil des Obersten Gerichts dazu – Roe v. Wade von 1973 – wieder zu kippen.
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Schon als neun Monate vor dem Ende der zweiten Amtszeit von Barack Obama der Oberste Richter Antonin Scalia starb, verhinderte Mitch McConnell, damals wie heute Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, eine Neubesetzung. Er setzte für den von Obama vorgeschlagenen Kandidaten Merrick Garland schlicht keine Abstimmung im Senat fest. McConnell argumentierte damals, „das amerikanische Volk sollte über die Benennung mitbestimmen. Die Stelle sollte daher erst nach der Wahl wiederbesetzt werden“.
Eine Stunde nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburg wiederholte der demokratische Minderheitenführer im Senat nun wortgleich McConnells Statement von 2016.
Sogar Barack Obama selbst schrieb in einem Statement nach dem Tod der Richterin, es sei ein “Grundprinzip des Rechts – und der Alltagsfairness” das Regel konsistent angewandt würden und nicht so, wie es eben gerade passe oder von Vorteil sei.
Die Demokraten erklären nun also eine ungeschriebene Regel zur geltenden politischen Kultur – im letzten Wahljahr dürfen keine Verfassungsrichter mehr benannt werden –, die ihre Gegner gerade erst erfunden haben und die sie selbst noch vor vier Jahren hart bekämpft und auf das Schärfste verurteilt haben. Noch 2017 haben sich die Demokraten im Senat übel dafür gerächt, dass McConnell Obamas Kandidaten verhindert hatte.
Clinton ruft dazu auf, eine Benennung vor der Wahl zu verhindern
Mit einem Filibuster, einer Endlosdebatte, die nur mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit hätte beendet werden können, verhinderten sie zunächst eine Abstimmung über den von Donald Trump nominierten Kandidaten für den Sitz von Antonin Scalia, Neil Gorsuch.
Die Republikaner schafften den Filibuster bei der Richterbenennung daraufhin mit ihrer Mehrheit im Senat ab, mittlerweile ist Gorsuch ernannt. Noch am Abend von Bader Ginsburgs Tod forderte Hillary Clinton in der Rachel Maddow Show dennoch dazu auf, jeden Verfahrenstrick zu nutzen, um eine Benennung vor der Wahl zu verhindern.
Filibuster, Verfahrenstricks, das Erfinden und Uminterpretieren ungeschriebener Regeln. Die jüngste Geschichte der Richternominierungen in den USA zeigt: Beide Seiten, sowohl die Demokraten als auch die Republikaner, haben alles getan, um die Legitimität des Verfahren zu beschädigen. Auf beiden Seiten wurde der Respekt vor Amt und der Nominierungsmacht des Präsidenten dem Kulturkrieg untergeordnet.
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Die Demokraten glaubten, ihr Kampf für den gesellschaftlichen Fortschritt sei der Richternominierung übergeordnet – auch, als die Amerikaner sich 2016 gerade mit der Wahl Donald Trumps für eine gesellschaftspolitische Restauration entschieden hatten. Die Republikaner wiederum erklärten ihren religiösen und weltanschaulichen Konservatismus zum übergeordneten Ziel – und nahmen Barack Obama die Möglichkeit, einen Richter zu benennen.
Das Ergebnis ist fatal. Das politisch Richtige und das formal Rechtliche fallen auseinander, wo sie nicht auseinanderfallen dürften – ausgerechnet bei der letzten Instanz im Rechtsstaat. Auf die Akzeptanz der Richtersprüche in der Bevölkerung dürfte das erhebliche Auswirkungen haben. Das Gericht wirkt schon jetzt extrem politisiert: als sei die Verfassung nichts als ein Instrument zur Fortsetzung des gesellschaftlichen Kulturkampfes in der Sphäre des Rechts.
In der Demokratie sollte die Verfassung bei allen politischen Streitigkeiten das Gemeinsame bleiben, über das sich alle politischen Parteien einig sind. Dazu gehört auch die überparteiliche Anerkennung des Verfassungsgerichts, das für die Auslegung zuständig ist. In den USA, das zeigt sich in diesen Tagen wieder, gibt es keine außer- und überparteiliche Instanz mehr, nicht einmal mehr das höchste Gericht. Es verliert damit seine Fähigkeit, Konflikte zu befrieden und die Gesellschaft zu stabilisieren.