NRW-Erfolg: Bewährungsprobe für Piraten
Die Piratenpartei zieht erwartungsgemäß ins vierte Landesparlament ein. Ihren Exotenstatus hat sie damit verloren – und muss jetzt Politik machen. Was der Wahlerfolg in NRW für die Piraten bedeutet.
Die Piraten in Nordrhein-Westfalen hatten ein Drogenproblem. Mit illegalen Drogen auch noch. Allerdings ging es weniger um direkten Drogenkonsum als vielmehr um die virtuelle, digitale Beschäftigung mit der Thematik. Eine Filtersoftware an Computern vieler Schulen hatte das Wahlprogramm der Piratenpartei blockiert. Zu sehen war nur der Hinweis, die Seite sei der Kategorie „illegale Drogen“ zugeordnet. Erst als ein Schüler mittels eines Screenshots die Piraten darauf aufmerksam gemacht hatte, konnten die sich um Abhilfe kümmern, indem sie den Hersteller der Filtersoftware informierten. Danach lief alles wieder. Grund des Problems: Die NRW-Piraten setzen sich in ihrem Wahlprogramm für eine Entkriminalisierung des Cannabiskonsums ein – und eine Software wird bei Worten wie Drogen eben misstrauisch.
In Wirklichkeit brauchen die Piraten derzeit keine künstlichen Hilfsmittel, um sich in rauschhafte Zustände zu versetzen. Denn auch in Nordrhein-Westfalen haben sie den Einzug ins Landesparlament geschafft. Leichtfüßig, wie zuletzt in Schleswig-Holstein. Damit sind die Newcomer mittlerweile in vier Landesparlamenten vertreten: in Berlin, im Saarland, in Schleswig-Holstein und jetzt in Nordrhein-Westfalen. Die Spannbreite ist dabei auch sehr groß – ein Stadtstaat, ein kleines und ein großes provinzielles Bundesland und das einwohnerreichste Bundesland. Die Piraten sind somit tief im Osten und tief im Westen vertreten.
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Der Wahlerfolg in NRW zeigt auch einmal mehr, dass die Piraten keine Jugendbewegung sind. Piraten wählen ist keine Altersfrage. Dafür steht schon allein der nordrhein-westfälische Spitzenkandidat Joachim Paul. 54 Jahre ist er alt, und im Rennen um die Spitzenkandidatur hat er sich gegen den 33-jährigen Vorsitzenden der NRW-Piraten, Michele Marsching, durchgesetzt. Paul ist eigentlich Biophysiker, arbeitet derzeit aber als Medienpädagoge. Dass er nun in aller Munde ist, hat er seinem Sohn zu verdanken. Der hatte ihn 2009 zum Stammtisch der Piraten in Neuss, der Heimat Pauls, mitgenommen. Entweder war dort das Bier besonders gut oder die Stimmung, vielleicht sogar beides. Auf jeden Fall ist Paul dabeigeblieben und erstmals in seinem Leben Parteimitglied geworden.
Zuvor hatte er immer mal wieder mit den Grünen geliebäugelt. „Es gab früher in meiner Lebensgeschichte, in meiner Studienzeit, den einen oder anderen Flirt mit den bunten Sponti-Bewegungen und dann nachher mit den Grünen“, sagte Paul vor einigen Tagen in einem Radiointerview. Aber um wirklich den Grünen beizutreten, habe immer etwas gefehlt. Bei den Piraten ist der Funke dann übergesprungen. Der Mann mit dem Zottelbart ist, das gehört nun mal zum genetischen Code vieler Piraten, im Netz aktiv. Nur tritt er dort nicht unmittelbar als Joachim Paul auf, sondern als „Nick Haflinger“. Das ist der Name eines hochbegabten Computerhackers im Science-Fiction-Roman „Der Schockwellenreiter“ von John Brunner.
Bildergalerie: Der neue Bundesvorstand der Piraten
Und Schockwellen haben die Piraten zweifelsohne bei den etablierten Parteien ausgelöst. Seit ihrem ersten großen Wahlerfolg in Berlin wetteifern SPD, CDU, Grüne und FDP darum, wer die Techniken der Piraten am schnellsten adaptiert, aber auch, wer die Piraten zu fassen bekommt – mit Nähe oder Kritik.
Piratenchef Bernd Schlömer macht das Abschneiden der Piraten in NRW stolz und zufrieden. „Das ist der Lohn für tollen Einsatz und viel Engagement. Die Piratenpartei ist nun endgültig im Parteiensystem angekommen“, sagt er dem Tagesspiegel. Nur, so rosarot wird auch die Piratenwelt nicht bleiben. Denn für die Orangenen war die Wahl in Schleswig-Holstein die letzte ihrer Art. Schon jetzt ist der Einzug der Piraten in den Düsseldorfer Landtag nicht mehr als Überraschung zu bezeichnen. Umgekehrt: Ein Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde wäre eine Sensation gewesen. Zieht man das letzte Ergebnis zurate, 2010 kamen sie in NRW nur auf 1,6 Prozent, dann ist der Erfolg natürlich verblüffend. Aber 2010 ist schon längst nicht mehr die Bezugsgröße für die Piraten. Nach dem Wahlerfolg in Berlin folgten weitere Landtagseinzüge, und im Bund rangieren sie seit Monaten konstant und deutlich über fünf Prozent. Der Erfolg ist also zu erwarten gewesen.
Die Piraten künftig in der Rolle als Mehrheitsbeschaffer
Die nächste Bewährungsprobe wird erst im Januar mit der Landtagswahl in Niedersachsen kommen. Der eigentliche Härtetest ist dann die Bundestagswahl im September 2013. Bis dahin werden alle – Bürger, die politische Konkurrenz und auch die Medien – sehr genau verfolgen, was die Piraten in den Parlamenten, den eigenen Gremien und im Netz machen. Der weitere Findungsprozess wird so ablaufen, wie es sich die Piraten eigentlich nur wünschen können – in aller Öffentlichkeit. Die Folge ist aber, dass sie ihren Nimbus verlieren könnten: ihr Etikett der Andersartigkeit. Plötzlich kommen Grabenkämpfe, Machtspiele und Debatten auf die Partei zu. Das mag es alles schon immer bei den Piraten gegeben haben, aber nicht unter dem Brennglas der Medienöffentlichkeit und nicht vor dem Hintergrund einer veränderten, nämlich gestiegenen Erwartungshaltung.
Auch strukturell könnte sich für die Piraten nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen etwas verändern. Denn bisher ist der Berliner Landesverband besonders einflussreich, weil hier der Durchbruch gelungen ist und auch, weil hier die profiliertesten Piratenköpfe ihre tatsächliche, mindestens aber ihre politische Heimat haben. Doch in dem Landesverband tobt ein Machtkampf. Landeschef Hartmut Semken steht schwer unter Druck und könnte noch im Sommer abgewählt werden. Mit dem Erfolg in NRW könnte das passieren, was in vielen etablierten Parteien längst der Fall ist – die Landesgruppe NRW wächst zur wichtigen, vielleicht zur wichtigsten Größe heran. Dass der nächste Bundesparteitag in Bochum stattfindet, ist ein erstes kleines Zeichen.
Die Piraten - eine Partei in Bildern
Viel von dieser neuen Erwartungshaltung wird natürlich von außen auf die Partei projiziert, weshalb Piratenchef Bernd Schlömer sich auch bemüht, die Partei etwas abzuschotten. „Wir werden uns nicht unter Druck setzen lassen – auch nicht, was unsere programmatische Entwicklung betrifft“, sagt Schlömer. Man wolle in Ruhe weiter an der eigenen Entwicklung arbeiten. Wahlniederlagen sind da sogar einkalkuliert. „Die Weiterentwicklung der Piratenpartei misst sich nicht an Einzügen in Parlamente. Verpassen wir mal einen Sprung in ein Parlament, dann ist das kein schwerer Schicksalsschlag für uns“, erklärt Schlömer. Der Druck laste eher auf den Schultern der anderen Parteien. „Die Zeit, in der man uns ignorieren oder sich nur pauschal mit uns auseinandersetzen konnte, ist mit dem Einzug in den nordrhein-westfälischen Landtag endgültig vorbei“, sagt er.
Mit steigendem Wahlerfolg steigt natürlich die Verantwortung. Schon jetzt fällt ihnen im Prinzip die Rolle der Mehrheitsbeschaffer zu. In Schleswig-Holstein gehen sie sehr selbstbewusst damit um. Sie sind zur Tolerierung des nur auf einer Stimme Mehrheit beruhenden möglichen Bündnisses aus SPD, Grünen und Süd-Schleswigschen-Wählerverband bereit – aber sie stellen Bedingungen. Große Debatten, wie sie bei Grünen, Linken und selbst bei der SPD gerne mal geführt werden, ob nicht lieber Totalopposition angebracht wäre, gibt es noch nicht. Aber auch hier stehen die Piraten noch am Anfang. In NRW müssen sie wohl nicht fürchten, sich über Tolerierungen und Koalitionen Gedanken machen zu müssen. Paul kündigte an, dass man sich nun auf die Parlaments- und Oppositionsarbeit konzentrieren wolle. Denn die Piraten müssen nach NRW in die nächste Phase gehen: Verstetigung. Oder anders ausgedrückt: Sie müssen die Mühen der Ebene erkunden.
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