Terror auf dem Weihnachtsmarkt: Berlin und Straßburg – zwei Städte, ein Gefühl
Vor zwei Jahren traf es Berlin, jetzt Straßburg. Angst, Schrecken, Traurigkeit, Verwirrung, Wut machen sich breit. Und dieselben Fragen. Eine Kolumne.
Berlin, 2016. Straßburg, 2018. Was für ein seltsames Déjà-vu-Gefühl. Der Ort: ein Weihnachtsmarkt. Der Zeitpunkt: ein paar Tage vor Weihnachten. Die Uhrzeit: kurz vor 20 Uhr, wenn es schon dunkel ist und die letzten Glühweintrinker sich auf den Weg nach Hause machen.
Der mutmaßliche Täter: Ein straffällig gewordener junger Mann, der den Behörden seit Langem wegen seiner zahlreichen Straftaten und seiner Sympathien für den radikalisierten Islam bekannt war, der aber auf freiem Fuß blieb, weil man in einem Rechtsstaat, der seinen Namen verdient, nicht einfach Leute einsperren darf, nur weil man sie für Gefährder hält. Das Ritual: Die Whats-App-Nachrichten poppen auf dem iPhone auf. „Alles okay bei uns. Wir sind zu Hause. Mach dir keine Sorgen.“ „Tut mir so leid für deine Stadt. Wir denken an dich.“
Das gleiche Gefühl, nur ein Spielball des Schicksals zu sein: In Berlin hatte mein Sohn gerade den Breitscheidplatz verlassen, wo er mit seinen Freunden einen Crêpe essen war. In Straßburg waren mein Bruder und seine Kinder am Samstag einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken gegangen, drei Tage vor dem Drama. Sie haben mir sogar ein Selfie geschickt, das heute einen makaberen Beigeschmack hat. Die Tochter einer Freundin wäre um ein Haar dem Täter begegnet. Eine Frage von drei Minuten. Was, wenn sie sich noch schnell den Schnürsenkel gebunden hätte, oder langsamer gelaufen wäre, um eine Nachricht zu lesen?
Hätte das Massaker verhindert werden können?
Das gleiche Gefühlschaos: Angst, Schrecken, Traurigkeit, Fassungslosigkeit, Verwirrung, Wut. Und vor allem dieselben Fragen: Wie erkennt man den Moment, in dem sich ein Kleinkrimineller radikalisiert und zur Tat übergeht? Hätten der Staat bzw. die Polizei das Massaker verhindern können? Was werden die politischen Konsequenzen dieses neuen Anschlags sein? Noch mehr Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen?
Berlin ist meine Wahlheimat. Straßburg meine Heimatstadt. Ich war gerade in Indien, als ich morgens beim Aufwachen die Bilder vom Breitscheidplatz sah. Seit Dienstagabend sehe ich mir in Berlin die Bilder der Straßburger Innenstadt rund um das Münster an. Sie ähneln sich. Die gleichen Holzhütten, die gleichen Lichterketten, die ihren Zauber verloren haben, die Ordnungskräfte mit dem Maschinengewehr in der Fußgängerzone, die flackernden Kerzen dort, wo die leblosen Körper der Opfer lagen.
In Berlin erkannte ich damals das Karussell, wo ich mit meinen Kinder oft war, als sie noch klein waren, sah den Kudamm unter Schock. In Straßburg erkenne ich die Metzgerei in der Rue des Orfèvres, die Corbeau-Brücke gleich um die Ecke bei meinen Eltern. Ich höre sogar das Läuten der schweren Glocken des Münsters in den menschenleeren Straßen. Die Rue des Orfèvres und der Breitscheidplatz sind heute das traurige Spiegelbild des jeweils anderen.
Wir hatten in Frankreich die Attentate fast vergessen. Hatten begonnen, wieder normal zu leben, hatten wieder unsere Unbekümmertheit zurückerlangt. Die Flanierenden am Dienstagabend auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt dachten vermutlich nicht mehr ans Bataclan, an Charlie Hebdo, an Nizza. Die Gefahr schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Bald werden wir erneut lernen müssen zu vergessen. Um wieder ein normales Leben führen zu können. Um sich nicht von der Panik lähmen zu lassen. Um dennoch Weihnachten zu feiern.
Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.